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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
aus positives Prinzip des Urteils. Um an einen allbekannten Fall
anzuknüpfen: warum besitzt die Erscheinung des grossen Byron für
jeden echten Germanen, trotz aller Bewunderung, die sein Genie
einflösst, etwas Abstossendes? Treitschke hat diese Frage in seinem
prächtigen Essay über Byron beantwortet: "weil wir in diesem reichen
Leben nirgends dem Gedanken der Pflicht begegnen". Das ist ein
widerwärtig ungermanischer Zug. Dagegen nehmen wir an seinen
Liebesabenteuern nicht den geringsten Anstoss; in ihnen bewährt sich
vielmehr echte Rasse; und mit Genugthuung sehen wir, dass Byron --
im Gegensatz zu Virgil, Juvenal, Lucian und ihren modernen Nach-
ahmern -- zwar ausschweifend war, doch nicht frivol. Den Weibern
gegenüber empfindet er ritterlich. Das begrüssen wir als ein Zeugnis
germanischer Eigenart. In der Politik wird sich dieses Prinzip des
Urteils ebenfalls überall bewähren. Die Fürsten z. B. werden wir
loben, wenn sie gegen die Ansprüche Rom's auftreten -- nicht weil
uns irgend ein dogmatisch-religiöses Vorurteil dazu hinreisst, sondern
weil wir in jeder Abwehr des internationalen Imperialismus eine
Förderung des Germanentums erblicken müssen; wir werden sie
tadeln, wenn sie dazu vorschreiten, sich selber als von Gottes Gnaden
eingesetzte absolute Herrscher zu betrachten, denn hiermit erweisen
sie sich als Plagiatoren des erbärmlichen Völkerchaos und vernichten
das urgermanische Gesetz der Freiheit, womit zugleich die besten
Kräfte des Volkes gebunden werden. In vielen Fällen ist freilich die
Lage eine sehr verwickelte, doch auch da hellt dasselbe regulative
Prinzip alles auf. So hat z. B. Ludwig XIV. durch seine schmähliche
Verfolgung der Protestanten den späteren Rückgang Frankreichs ver-
ursacht; er hat damit eine That von unermesslicher antigermanischer
Tragweite vollbracht und zwar in seiner Eigenschaft als Jesuitenzögling,
von seinen Lehrern in so krasser Ignoranz erzogen, dass er nicht
einmal seine eigene Sprache korrekt schreiben konnte und von Ge-
schichte gar nichts wusste1) -- und doch bewährte sich dieser Fürst
als echter Germane nach manchen Richtungen hin, z. B. in seiner
herzhaften Verteidigung der Sonderrechte und der prinzipiellen Auto-
nomie der gallikanischen Kirche gegenüber römischen Anmassungen
(es ist wohl selten ein katholischer König so rücksichtslos bei jeder
Gelegenheit gegen die Person des Papstes vorgegangen), wie auch in

1) Vergl. den Brief 16 in dem Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich
dem Grossen.

Die Entstehung einer neuen Welt.
aus positives Prinzip des Urteils. Um an einen allbekannten Fall
anzuknüpfen: warum besitzt die Erscheinung des grossen Byron für
jeden echten Germanen, trotz aller Bewunderung, die sein Genie
einflösst, etwas Abstossendes? Treitschke hat diese Frage in seinem
prächtigen Essay über Byron beantwortet: »weil wir in diesem reichen
Leben nirgends dem Gedanken der Pflicht begegnen«. Das ist ein
widerwärtig ungermanischer Zug. Dagegen nehmen wir an seinen
Liebesabenteuern nicht den geringsten Anstoss; in ihnen bewährt sich
vielmehr echte Rasse; und mit Genugthuung sehen wir, dass Byron —
im Gegensatz zu Virgil, Juvenal, Lucian und ihren modernen Nach-
ahmern — zwar ausschweifend war, doch nicht frivol. Den Weibern
gegenüber empfindet er ritterlich. Das begrüssen wir als ein Zeugnis
germanischer Eigenart. In der Politik wird sich dieses Prinzip des
Urteils ebenfalls überall bewähren. Die Fürsten z. B. werden wir
loben, wenn sie gegen die Ansprüche Rom’s auftreten — nicht weil
uns irgend ein dogmatisch-religiöses Vorurteil dazu hinreisst, sondern
weil wir in jeder Abwehr des internationalen Imperialismus eine
Förderung des Germanentums erblicken müssen; wir werden sie
tadeln, wenn sie dazu vorschreiten, sich selber als von Gottes Gnaden
eingesetzte absolute Herrscher zu betrachten, denn hiermit erweisen
sie sich als Plagiatoren des erbärmlichen Völkerchaos und vernichten
das urgermanische Gesetz der Freiheit, womit zugleich die besten
Kräfte des Volkes gebunden werden. In vielen Fällen ist freilich die
Lage eine sehr verwickelte, doch auch da hellt dasselbe regulative
Prinzip alles auf. So hat z. B. Ludwig XIV. durch seine schmähliche
Verfolgung der Protestanten den späteren Rückgang Frankreichs ver-
ursacht; er hat damit eine That von unermesslicher antigermanischer
Tragweite vollbracht und zwar in seiner Eigenschaft als Jesuitenzögling,
von seinen Lehrern in so krasser Ignoranz erzogen, dass er nicht
einmal seine eigene Sprache korrekt schreiben konnte und von Ge-
schichte gar nichts wusste1) — und doch bewährte sich dieser Fürst
als echter Germane nach manchen Richtungen hin, z. B. in seiner
herzhaften Verteidigung der Sonderrechte und der prinzipiellen Auto-
nomie der gallikanischen Kirche gegenüber römischen Anmassungen
(es ist wohl selten ein katholischer König so rücksichtslos bei jeder
Gelegenheit gegen die Person des Papstes vorgegangen), wie auch in

1) Vergl. den Brief 16 in dem Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich
dem Grossen.
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[722/0201] Die Entstehung einer neuen Welt. aus positives Prinzip des Urteils. Um an einen allbekannten Fall anzuknüpfen: warum besitzt die Erscheinung des grossen Byron für jeden echten Germanen, trotz aller Bewunderung, die sein Genie einflösst, etwas Abstossendes? Treitschke hat diese Frage in seinem prächtigen Essay über Byron beantwortet: »weil wir in diesem reichen Leben nirgends dem Gedanken der Pflicht begegnen«. Das ist ein widerwärtig ungermanischer Zug. Dagegen nehmen wir an seinen Liebesabenteuern nicht den geringsten Anstoss; in ihnen bewährt sich vielmehr echte Rasse; und mit Genugthuung sehen wir, dass Byron — im Gegensatz zu Virgil, Juvenal, Lucian und ihren modernen Nach- ahmern — zwar ausschweifend war, doch nicht frivol. Den Weibern gegenüber empfindet er ritterlich. Das begrüssen wir als ein Zeugnis germanischer Eigenart. In der Politik wird sich dieses Prinzip des Urteils ebenfalls überall bewähren. Die Fürsten z. B. werden wir loben, wenn sie gegen die Ansprüche Rom’s auftreten — nicht weil uns irgend ein dogmatisch-religiöses Vorurteil dazu hinreisst, sondern weil wir in jeder Abwehr des internationalen Imperialismus eine Förderung des Germanentums erblicken müssen; wir werden sie tadeln, wenn sie dazu vorschreiten, sich selber als von Gottes Gnaden eingesetzte absolute Herrscher zu betrachten, denn hiermit erweisen sie sich als Plagiatoren des erbärmlichen Völkerchaos und vernichten das urgermanische Gesetz der Freiheit, womit zugleich die besten Kräfte des Volkes gebunden werden. In vielen Fällen ist freilich die Lage eine sehr verwickelte, doch auch da hellt dasselbe regulative Prinzip alles auf. So hat z. B. Ludwig XIV. durch seine schmähliche Verfolgung der Protestanten den späteren Rückgang Frankreichs ver- ursacht; er hat damit eine That von unermesslicher antigermanischer Tragweite vollbracht und zwar in seiner Eigenschaft als Jesuitenzögling, von seinen Lehrern in so krasser Ignoranz erzogen, dass er nicht einmal seine eigene Sprache korrekt schreiben konnte und von Ge- schichte gar nichts wusste 1) — und doch bewährte sich dieser Fürst als echter Germane nach manchen Richtungen hin, z. B. in seiner herzhaften Verteidigung der Sonderrechte und der prinzipiellen Auto- nomie der gallikanischen Kirche gegenüber römischen Anmassungen (es ist wohl selten ein katholischer König so rücksichtslos bei jeder Gelegenheit gegen die Person des Papstes vorgegangen), wie auch in 1) Vergl. den Brief 16 in dem Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Grossen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 722. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/201>, abgerufen am 24.11.2024.