Schon bei einer früheren Gelegenheit (siehe S. 250) habe ichChristus und Christentum. meine persönliche Überzeugung ausgesprochen, dass das Erdenleben Jesu Christi Ursprung und Quelle, Kraft und -- im tiefsten Grund -- auch Inhalt alles dessen ausmache, was jemals sich christliche Religion genannt hat. Das Gesagte will ich nicht wiederholen, sondern ver- weise ein für alle Mal auf das Kapitel über die Erscheinung Jesu Christi. Habe ich nun dort diese Erscheinung gänzlich aus allem historisch gewordenen Christentum herausgelöst, so beabsichtige ich hier das ergänzende Verfahren anzuwenden, indem ich von der Ent- stehung und dem Werden der christlichen Religion spreche und einige leitende Grundideen möglichst klar heraus- und hervorzuheben versuche, ohne die unantastbare Gestalt des Gekreuzigten auch nur zu berühren. Diese Scheidung ist nicht nur möglich, sondern notwendig; denn es wäre blasphematorische Kritiklosigkeit, die wunderlichen Strukturen, welche menschlicher Tiefsinn, Scharfsinn, Kurzsinn, Wirrsinn, Stumpf- sinn, welche Tradition und Frömmigkeit, Aberglaube, Bosheit, Dummheit, Herkommen, philosophische Spekulation, mystische Ver- senkung -- -- -- unter nie endendem Zungengezänk und Schwerter- geklirr und Feuergeprassel auf dem einen Felsen errichtet haben, mit dem Felsen selbst identifizieren zu wollen. Der gesamte Oberbau der bisherigen christlichen Kirchen steht ausserhalb der Persönlichkeit Jesu Christi. Jüdischer Wille gepaart mit arischem mythischen Denken haben den Hauptstock geliefert; dazu kam noch Manches aus Syrien, Ägypten u. s. w.; die Erscheinung Christi auf Erden war zunächst nur die Veranlassung zu dieser Religionsbildung, das treibende Mo- ment -- etwa wie wenn der Blitz durch die Wolken fährt und nun der Regen zur Erde herabfliesst, oder wie wenn auf gewisse Stoffe, die sonst keine Verbindung mit einander eingehen, plötzlich Sonnen- strahlen fallen und jene nunmehr, vom Lichte innerlich umgewandelt, unter zerstörendem Sprengen ihrer bisherigen Raumgrenzen zu einer neuen Substanz verschmelzen. Gewiss wäre es wenig einsichtsvoll,
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 35
Schon bei einer früheren Gelegenheit (siehe S. 250) habe ichChristus und Christentum. meine persönliche Überzeugung ausgesprochen, dass das Erdenleben Jesu Christi Ursprung und Quelle, Kraft und — im tiefsten Grund — auch Inhalt alles dessen ausmache, was jemals sich christliche Religion genannt hat. Das Gesagte will ich nicht wiederholen, sondern ver- weise ein für alle Mal auf das Kapitel über die Erscheinung Jesu Christi. Habe ich nun dort diese Erscheinung gänzlich aus allem historisch gewordenen Christentum herausgelöst, so beabsichtige ich hier das ergänzende Verfahren anzuwenden, indem ich von der Ent- stehung und dem Werden der christlichen Religion spreche und einige leitende Grundideen möglichst klar heraus- und hervorzuheben versuche, ohne die unantastbare Gestalt des Gekreuzigten auch nur zu berühren. Diese Scheidung ist nicht nur möglich, sondern notwendig; denn es wäre blasphematorische Kritiklosigkeit, die wunderlichen Strukturen, welche menschlicher Tiefsinn, Scharfsinn, Kurzsinn, Wirrsinn, Stumpf- sinn, welche Tradition und Frömmigkeit, Aberglaube, Bosheit, Dummheit, Herkommen, philosophische Spekulation, mystische Ver- senkung — — — unter nie endendem Zungengezänk und Schwerter- geklirr und Feuergeprassel auf dem einen Felsen errichtet haben, mit dem Felsen selbst identifizieren zu wollen. Der gesamte Oberbau der bisherigen christlichen Kirchen steht ausserhalb der Persönlichkeit Jesu Christi. Jüdischer Wille gepaart mit arischem mythischen Denken haben den Hauptstock geliefert; dazu kam noch Manches aus Syrien, Ägypten u. s. w.; die Erscheinung Christi auf Erden war zunächst nur die Veranlassung zu dieser Religionsbildung, das treibende Mo- ment — etwa wie wenn der Blitz durch die Wolken fährt und nun der Regen zur Erde herabfliesst, oder wie wenn auf gewisse Stoffe, die sonst keine Verbindung mit einander eingehen, plötzlich Sonnen- strahlen fallen und jene nunmehr, vom Lichte innerlich umgewandelt, unter zerstörendem Sprengen ihrer bisherigen Raumgrenzen zu einer neuen Substanz verschmelzen. Gewiss wäre es wenig einsichtsvoll,
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 35
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Schon bei einer früheren Gelegenheit (siehe S. 250) habe ich
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Jesu Christi Ursprung und Quelle, Kraft und — im tiefsten Grund —
auch Inhalt alles dessen ausmache, was jemals sich christliche Religion
genannt hat. Das Gesagte will ich nicht wiederholen, sondern ver-
weise ein für alle Mal auf das Kapitel über die Erscheinung Jesu
Christi. Habe ich nun dort diese Erscheinung gänzlich aus allem
historisch gewordenen Christentum herausgelöst, so beabsichtige ich
hier das ergänzende Verfahren anzuwenden, indem ich von der Ent-
stehung und dem Werden der christlichen Religion spreche und einige
leitende Grundideen möglichst klar heraus- und hervorzuheben versuche,
ohne die unantastbare Gestalt des Gekreuzigten auch nur zu berühren.
Diese Scheidung ist nicht nur möglich, sondern notwendig; denn es
wäre blasphematorische Kritiklosigkeit, die wunderlichen Strukturen,
welche menschlicher Tiefsinn, Scharfsinn, Kurzsinn, Wirrsinn, Stumpf-
sinn, welche Tradition und Frömmigkeit, Aberglaube, Bosheit,
Dummheit, Herkommen, philosophische Spekulation, mystische Ver-
senkung — — — unter nie endendem Zungengezänk und Schwerter-
geklirr und Feuergeprassel auf dem einen Felsen errichtet haben, mit
dem Felsen selbst identifizieren zu wollen. Der gesamte Oberbau
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Jesu Christi. Jüdischer Wille gepaart mit arischem mythischen Denken
haben den Hauptstock geliefert; dazu kam noch Manches aus Syrien,
Ägypten u. s. w.; die Erscheinung Christi auf Erden war zunächst
nur die Veranlassung zu dieser Religionsbildung, das treibende Mo-
ment — etwa wie wenn der Blitz durch die Wolken fährt und nun
der Regen zur Erde herabfliesst, oder wie wenn auf gewisse Stoffe,
die sonst keine Verbindung mit einander eingehen, plötzlich Sonnen-
strahlen fallen und jene nunmehr, vom Lichte innerlich umgewandelt,
unter zerstörendem Sprengen ihrer bisherigen Raumgrenzen zu einer
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. [545]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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