Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Entdeckung. runder, im Raume schwebender Planet vernichtet die greifbare Vor-stellung der Hölle ebenso gründlich und weit wirksamer als Kant's Transscendentalität des Raumes. Kaum ein einziger der kühnen See- fahrer glaubte ganz fest an die Kugelgestalt der Erde und Magalhanes hatte grosse Mühe, seine Leute zu beruhigen, als er den Stillen Ocean durchkreuzte, da sie täglich fürchteten, plötzlich an den "Rand" der Welt zu gelangen und direkt in die Hölle hinunter zu fallen. Und nunmehr war der konkrete Beweis erbracht; die Leute, die nach Westen hinausgesegelt waren, kehrten von Osten zurück! Das war die vorläufige Vollendung des von Marco Polo (1254--1323) begonnenen Werkes; er hatte als Erster die sichere Kunde gebracht, im Osten von Asien dehne sich ein Ocean aus.1) Mit einem Schlage war nunmehr rationelle Astronomie möglich hatten, und raubte den physico-theologischen Vorstellungen alle sinnlich über- zeugende Realität. 1) Zur Verdeutlichung des im 13. Jahrhundert begonnenen geographischen
Entdeckungswerkes ist umstehend eine Karte beigegeben. Der schwarze Teil zeigt, wie viel von der Welt dem Europäer aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, also vor Marco Polo, bekannt war; alles weiss Gelassene war völlig terra incognita. Die Gegenüberstellung wirkt überraschend und kann als ein Diagramm zur Ver- sinnbildlichung der entdeckenden Thätigkeit der Germanen auch auf anderen Ge- bieten dienen. -- Sobald man frühere Zeiten oder aussereuropäische Völker in Betracht zöge, müsste allerdings der schwarze Teil bedeutende Modifikationen er- leiden; so z. B. hatten die Phönizier die Kap Verde-Inseln gekannt, inzwischen waren aber diese so gänzlich aus den Augen verloren, dass man die alten Be- richte für Fabeln hielt; die Kalifen hatten mit Madagaskar einen regen Verkehr unterhalten, sogar -- angeblich -- den Seeweg um Indien herum nach China gekannt; christliche, nestorianische Bischöfe soll es im 7. Jahrhundert in China gegeben haben! u. s. w. Dass von allen diesen Dingen einzelne Europäer (am päpstlichen Hofe oder an Handelsemporien) dunkle Kunde auch im 13. Jahr- hundert besassen, ist anzunehmen; ich habe aber zeigen wollen, was thatsächlich und aus sicherer Anschauung damals bekannt war, und da habe ich eher zu viel als zu wenig aufgenommen. Von den Küsten Indiens z. B. hatten die Europäer damals gar keine genaue Kenntnis; drei Jahrhunderte später (z. B. auf der Karte von Johann Ruysch) sind ihre Vorstellungen noch schwankend und fehlervoll; von Innerasien kannten sie lediglich die Karawanenstrassen bis nach Samarkand und bis an den Indus. Erst wenige Jahre vor Marco Polo sind zwei Franziskaner- Mönche bis nach Karakorum, an den Hof des Grosskhans, vorgedrungen und haben von dort die erste nähere Kunde (doch auch nur vom Hörensagen) über China gebracht. Entdeckung. runder, im Raume schwebender Planet vernichtet die greifbare Vor-stellung der Hölle ebenso gründlich und weit wirksamer als Kant’s Transscendentalität des Raumes. Kaum ein einziger der kühnen See- fahrer glaubte ganz fest an die Kugelgestalt der Erde und Magalhães hatte grosse Mühe, seine Leute zu beruhigen, als er den Stillen Ocean durchkreuzte, da sie täglich fürchteten, plötzlich an den »Rand« der Welt zu gelangen und direkt in die Hölle hinunter zu fallen. Und nunmehr war der konkrete Beweis erbracht; die Leute, die nach Westen hinausgesegelt waren, kehrten von Osten zurück! Das war die vorläufige Vollendung des von Marco Polo (1254—1323) begonnenen Werkes; er hatte als Erster die sichere Kunde gebracht, im Osten von Asien dehne sich ein Ocean aus.1) Mit einem Schlage war nunmehr rationelle Astronomie möglich hatten, und raubte den physico-theologischen Vorstellungen alle sinnlich über- zeugende Realität. 1) Zur Verdeutlichung des im 13. Jahrhundert begonnenen geographischen
Entdeckungswerkes ist umstehend eine Karte beigegeben. Der schwarze Teil zeigt, wie viel von der Welt dem Europäer aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, also vor Marco Polo, bekannt war; alles weiss Gelassene war völlig terra incognita. Die Gegenüberstellung wirkt überraschend und kann als ein Diagramm zur Ver- sinnbildlichung der entdeckenden Thätigkeit der Germanen auch auf anderen Ge- bieten dienen. — Sobald man frühere Zeiten oder aussereuropäische Völker in Betracht zöge, müsste allerdings der schwarze Teil bedeutende Modifikationen er- leiden; so z. B. hatten die Phönizier die Kap Verde-Inseln gekannt, inzwischen waren aber diese so gänzlich aus den Augen verloren, dass man die alten Be- richte für Fabeln hielt; die Kalifen hatten mit Madagaskar einen regen Verkehr unterhalten, sogar — angeblich — den Seeweg um Indien herum nach China gekannt; christliche, nestorianische Bischöfe soll es im 7. Jahrhundert in China gegeben haben! u. s. w. Dass von allen diesen Dingen einzelne Europäer (am päpstlichen Hofe oder an Handelsemporien) dunkle Kunde auch im 13. Jahr- hundert besassen, ist anzunehmen; ich habe aber zeigen wollen, was thatsächlich und aus sicherer Anschauung damals bekannt war, und da habe ich eher zu viel als zu wenig aufgenommen. Von den Küsten Indiens z. B. hatten die Europäer damals gar keine genaue Kenntnis; drei Jahrhunderte später (z. B. auf der Karte von Johann Ruysch) sind ihre Vorstellungen noch schwankend und fehlervoll; von Innerasien kannten sie lediglich die Karawanenstrassen bis nach Samarkand und bis an den Indus. Erst wenige Jahre vor Marco Polo sind zwei Franziskaner- Mönche bis nach Karakorum, an den Hof des Grosskhans, vorgedrungen und haben von dort die erste nähere Kunde (doch auch nur vom Hörensagen) über China gebracht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0250" n="771"/><fw place="top" type="header">Entdeckung.</fw><lb/> runder, im Raume schwebender Planet vernichtet die greifbare Vor-<lb/> stellung der Hölle ebenso gründlich und weit wirksamer als Kant’s<lb/> Transscendentalität des Raumes. Kaum ein einziger der kühnen See-<lb/> fahrer glaubte ganz fest an die Kugelgestalt der Erde und Magalhães<lb/> hatte grosse Mühe, seine Leute zu beruhigen, als er den Stillen Ocean<lb/> durchkreuzte, da sie täglich fürchteten, plötzlich an den »Rand« der<lb/> Welt zu gelangen und direkt in die Hölle hinunter zu fallen. Und<lb/> nunmehr war der konkrete Beweis erbracht; die Leute, die nach<lb/> Westen hinausgesegelt waren, kehrten von Osten zurück! 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Entdeckung.
runder, im Raume schwebender Planet vernichtet die greifbare Vor-
stellung der Hölle ebenso gründlich und weit wirksamer als Kant’s
Transscendentalität des Raumes. Kaum ein einziger der kühnen See-
fahrer glaubte ganz fest an die Kugelgestalt der Erde und Magalhães
hatte grosse Mühe, seine Leute zu beruhigen, als er den Stillen Ocean
durchkreuzte, da sie täglich fürchteten, plötzlich an den »Rand« der
Welt zu gelangen und direkt in die Hölle hinunter zu fallen. Und
nunmehr war der konkrete Beweis erbracht; die Leute, die nach
Westen hinausgesegelt waren, kehrten von Osten zurück! Das war die
vorläufige Vollendung des von Marco Polo (1254—1323) begonnenen
Werkes; er hatte als Erster die sichere Kunde gebracht, im Osten von
Asien dehne sich ein Ocean aus. 1)
Mit einem Schlage war nunmehr rationelle Astronomie möglich
geworden! Die Erde war rund; folglich schwebte sie im Raume.
Schwebte sie aber im Raume, warum sollten nicht Sonne, Mond und
2)
1) Zur Verdeutlichung des im 13. Jahrhundert begonnenen geographischen
Entdeckungswerkes ist umstehend eine Karte beigegeben. Der schwarze Teil zeigt,
wie viel von der Welt dem Europäer aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts,
also vor Marco Polo, bekannt war; alles weiss Gelassene war völlig terra incognita.
Die Gegenüberstellung wirkt überraschend und kann als ein Diagramm zur Ver-
sinnbildlichung der entdeckenden Thätigkeit der Germanen auch auf anderen Ge-
bieten dienen. — Sobald man frühere Zeiten oder aussereuropäische Völker in
Betracht zöge, müsste allerdings der schwarze Teil bedeutende Modifikationen er-
leiden; so z. B. hatten die Phönizier die Kap Verde-Inseln gekannt, inzwischen
waren aber diese so gänzlich aus den Augen verloren, dass man die alten Be-
richte für Fabeln hielt; die Kalifen hatten mit Madagaskar einen regen Verkehr
unterhalten, sogar — angeblich — den Seeweg um Indien herum nach China
gekannt; christliche, nestorianische Bischöfe soll es im 7. Jahrhundert in China
gegeben haben! u. s. w. Dass von allen diesen Dingen einzelne Europäer (am
päpstlichen Hofe oder an Handelsemporien) dunkle Kunde auch im 13. Jahr-
hundert besassen, ist anzunehmen; ich habe aber zeigen wollen, was thatsächlich
und aus sicherer Anschauung damals bekannt war, und da habe ich eher zu viel
als zu wenig aufgenommen. Von den Küsten Indiens z. B. hatten die Europäer
damals gar keine genaue Kenntnis; drei Jahrhunderte später (z. B. auf der Karte
von Johann Ruysch) sind ihre Vorstellungen noch schwankend und fehlervoll;
von Innerasien kannten sie lediglich die Karawanenstrassen bis nach Samarkand
und bis an den Indus. Erst wenige Jahre vor Marco Polo sind zwei Franziskaner-
Mönche bis nach Karakorum, an den Hof des Grosskhans, vorgedrungen und
haben von dort die erste nähere Kunde (doch auch nur vom Hörensagen) über
China gebracht.
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