sieht, bis ins Innere unseres Gegenstandes eingedrungen; ja, ich glaube, wir haben schon unvermerkt den Finger auf dessen Mittelpunkt gelegt.
Ich machte vorhin darauf aufmerksam, dass die Hellenen uns vielleicht als Theoretiker, wir ihnen jedenfalls als Beobachter überlegen seien. Das Theoretisieren und Systematisieren ist nun nichts anderes als wissenschaftliches Gestaltungswerk. Gestalten wir nicht -- d. h. also theoretisieren und systematisieren wir nicht -- so können wir nur ein Minimum an Wissen aufnehmen; es fliesst durch unser Hirn wie durch ein Sieb. Jedoch, mit dem Gestalten hat es ebenfalls einen Haken: denn, wie soeben an dem Beispiele Bichat's hervorgehoben, dieses Gestalten ist ein wesentlich menschliches und das heisst der Natur gegenüber einseitiges, unzureichendes Beginnen. Gerade durch die Naturwissenschaften1) wird die Nichtigkeit des platten Anthropo- morphismus aller Hegels dieser Welt aufgedeckt. Es ist nicht wahr, dass der Menschengeist den Erscheinungen adäquat ist, die Wissen- schaften beweisen das Gegenteil; Jeder, der in der Schule der Be- obachtung den Geist ausgebildet hat, weiss es. Auch die viel tiefere Anschauung eines Paracelsus, der die uns umgebende Natur "den äusseren Menschen" nannte, wird uns zwar philosophisch fesseln, doch wissenschaftlich von geringer Ergiebigkeit dünken; denn sobald ich es mit empirischen Thatsachen zu thun habe, ist mein innerstes Herz ein Muskel und mein Denken die Funktion einer in einem Schädel- kasten eingeschlossenen grauen und weissen Masse: alles dem Leben meiner inneren Persönlichkeit gegenüber ebenso "äusserlich", wie nur irgend einer jener Sterne, deren Licht, nach William Herschel, zwei Millionen Jahre braucht, um an mein Auge zu gelangen. Ist also die Natur vielleicht wirklich in einem gewissen Sinne ein "äusserer Mensch", wie Paracelsus und nach ihm Goethe meinen, das bringt sie mir und meinem spezifisch und beschränkt menschlichen Verständnis in rein wissenschaftlicher Beziehung um keinen Zoll näher; denn auch der Mensch ist nur ein "äusserliches".
Nichts ist drinnen, nichts ist draussen: Denn was innen, das ist aussen.
Darum ist alles wissenschaftliche Systematisieren und Theoretisieren ein Anpassen, ein Adaptieren, ein zwar möglichst genaues, doch nie ganz fehlerloses und -- namentlich -- immer ein menschlich gefärbtes Über-
1) Dass alle echte Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wurde schon hervor- gehoben. (S. 732).
Die Entstehung einer neuen Welt.
sieht, bis ins Innere unseres Gegenstandes eingedrungen; ja, ich glaube, wir haben schon unvermerkt den Finger auf dessen Mittelpunkt gelegt.
Ich machte vorhin darauf aufmerksam, dass die Hellenen uns vielleicht als Theoretiker, wir ihnen jedenfalls als Beobachter überlegen seien. Das Theoretisieren und Systematisieren ist nun nichts anderes als wissenschaftliches Gestaltungswerk. Gestalten wir nicht — d. h. also theoretisieren und systematisieren wir nicht — so können wir nur ein Minimum an Wissen aufnehmen; es fliesst durch unser Hirn wie durch ein Sieb. Jedoch, mit dem Gestalten hat es ebenfalls einen Haken: denn, wie soeben an dem Beispiele Bichat’s hervorgehoben, dieses Gestalten ist ein wesentlich menschliches und das heisst der Natur gegenüber einseitiges, unzureichendes Beginnen. Gerade durch die Naturwissenschaften1) wird die Nichtigkeit des platten Anthropo- morphismus aller Hegels dieser Welt aufgedeckt. Es ist nicht wahr, dass der Menschengeist den Erscheinungen adäquat ist, die Wissen- schaften beweisen das Gegenteil; Jeder, der in der Schule der Be- obachtung den Geist ausgebildet hat, weiss es. Auch die viel tiefere Anschauung eines Paracelsus, der die uns umgebende Natur »den äusseren Menschen« nannte, wird uns zwar philosophisch fesseln, doch wissenschaftlich von geringer Ergiebigkeit dünken; denn sobald ich es mit empirischen Thatsachen zu thun habe, ist mein innerstes Herz ein Muskel und mein Denken die Funktion einer in einem Schädel- kasten eingeschlossenen grauen und weissen Masse: alles dem Leben meiner inneren Persönlichkeit gegenüber ebenso »äusserlich«, wie nur irgend einer jener Sterne, deren Licht, nach William Herschel, zwei Millionen Jahre braucht, um an mein Auge zu gelangen. Ist also die Natur vielleicht wirklich in einem gewissen Sinne ein »äusserer Mensch«, wie Paracelsus und nach ihm Goethe meinen, das bringt sie mir und meinem spezifisch und beschränkt menschlichen Verständnis in rein wissenschaftlicher Beziehung um keinen Zoll näher; denn auch der Mensch ist nur ein »äusserliches«.
Nichts ist drinnen, nichts ist draussen: Denn was innen, das ist aussen.
Darum ist alles wissenschaftliche Systematisieren und Theoretisieren ein Anpassen, ein Adaptieren, ein zwar möglichst genaues, doch nie ganz fehlerloses und — namentlich — immer ein menschlich gefärbtes Über-
1) Dass alle echte Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wurde schon hervor- gehoben. (S. 732).
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Die Entstehung einer neuen Welt.
sieht, bis ins Innere unseres Gegenstandes eingedrungen; ja, ich glaube,
wir haben schon unvermerkt den Finger auf dessen Mittelpunkt gelegt.
Ich machte vorhin darauf aufmerksam, dass die Hellenen uns
vielleicht als Theoretiker, wir ihnen jedenfalls als Beobachter überlegen
seien. Das Theoretisieren und Systematisieren ist nun nichts anderes
als wissenschaftliches Gestaltungswerk. Gestalten wir nicht — d. h.
also theoretisieren und systematisieren wir nicht — so können wir
nur ein Minimum an Wissen aufnehmen; es fliesst durch unser Hirn
wie durch ein Sieb. Jedoch, mit dem Gestalten hat es ebenfalls einen
Haken: denn, wie soeben an dem Beispiele Bichat’s hervorgehoben,
dieses Gestalten ist ein wesentlich menschliches und das heisst der
Natur gegenüber einseitiges, unzureichendes Beginnen. Gerade durch
die Naturwissenschaften 1) wird die Nichtigkeit des platten Anthropo-
morphismus aller Hegels dieser Welt aufgedeckt. Es ist nicht wahr,
dass der Menschengeist den Erscheinungen adäquat ist, die Wissen-
schaften beweisen das Gegenteil; Jeder, der in der Schule der Be-
obachtung den Geist ausgebildet hat, weiss es. Auch die viel tiefere
Anschauung eines Paracelsus, der die uns umgebende Natur »den
äusseren Menschen« nannte, wird uns zwar philosophisch fesseln, doch
wissenschaftlich von geringer Ergiebigkeit dünken; denn sobald ich es
mit empirischen Thatsachen zu thun habe, ist mein innerstes Herz
ein Muskel und mein Denken die Funktion einer in einem Schädel-
kasten eingeschlossenen grauen und weissen Masse: alles dem Leben
meiner inneren Persönlichkeit gegenüber ebenso »äusserlich«, wie nur
irgend einer jener Sterne, deren Licht, nach William Herschel, zwei
Millionen Jahre braucht, um an mein Auge zu gelangen. Ist also
die Natur vielleicht wirklich in einem gewissen Sinne ein Ȋusserer
Mensch«, wie Paracelsus und nach ihm Goethe meinen, das bringt sie
mir und meinem spezifisch und beschränkt menschlichen Verständnis
in rein wissenschaftlicher Beziehung um keinen Zoll näher; denn
auch der Mensch ist nur ein »äusserliches«.
Nichts ist drinnen, nichts ist draussen:
Denn was innen, das ist aussen.
Darum ist alles wissenschaftliche Systematisieren und Theoretisieren ein
Anpassen, ein Adaptieren, ein zwar möglichst genaues, doch nie ganz
fehlerloses und — namentlich — immer ein menschlich gefärbtes Über-
1) Dass alle echte Wissenschaft Naturwissenschaft ist, wurde schon hervor-
gehoben. (S. 732).
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/259>, abgerufen am 21.11.2024.
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