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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
matik entdeckt, manches Andere (z. B. die Bedeutung der Blütenteile)
war ihm entgangen, so dass der Mann, der die Gestaltung des Pflanzen-
reiches in ihren Hauptzügen bereits vollkommen richtig übersah, den-
noch ein unhaltbares System entwarf: unsere Kenntnisse waren damals
eben noch nicht eingehend genug, damit Ray's "Idee" in einer "Theorie"
entsprechende Ausgestaltung hätte finden können. Bei der "Idee" ist,
wie man sieht, der Mensch selber noch ein Stück Natur; es spricht
hier -- wenn ich den Vergleich wagen darf -- jene "Stimme des
Blutes", welche das Hauptthema der Erzählungen des Cervantes aus-
macht; der Mensch erblickt Verhältnisse, über die er keine Rechen-
schaft geben kann, er ahnt Dinge, die er nicht im Stande wäre zu
beweisen.1) Das ist kein eigentliches Wissen; es ist der Wiederschein
eines transscendenten Zusammenhangs und ist darum auch eine un-
mittelbare, nicht eine dialektische Erfahrung. Die Deutung solcher
Ahnungen wird immer sehr unsicher sein; auf objektive Gültigkeit
können weder die Ahnungen noch ihre Deutungen Anspruch machen,
sondern ihr Wert bleibt auf das Individuum beschränkt und hängt
durchaus von dessen individueller Bedeutung ab. Hier ist es, wo
das Geniale schöpferisch auftritt. Und ist unsere ganze germanische
Wissenschaft eine Wissenschaft der treuen, peinlich genauen, durch
und durch nüchternen Beobachtung, so ist sie zugleich eine Wissen-
schaft des Genialen. Überall "gehen die Ideen vorher", da hat Liebig
vollkommen recht; wir sehen es ebenso deutlich bei Galilei wie bei Ray,2)
bei Bichat wie bei Winckelmann, bei Colebrooke wie bei Immanuel
Kant; nur muss man sich hüten, Idee und Theorie zu verwechseln;
denn diese genialen Ideen sind durchaus keine Theorien. Die Theorie
ist der Versuch, eine gewisse Erfahrungsmenge -- oft, vielleicht immer
mit Hilfe einer Idee gesammelt -- so zu organisieren, dass dieser
künstliche Organismus den Bedürfnissen des spezifischen Menschen-
geistes diene, ohne dass er den bekannten Thatsachen widerspreche
oder Gewalt anthue. Man sieht sofort ein: der relative Wert einer
Theorie wird stets in direktem Verhältnis zu der Anzahl der bekannten

1) Kant hat dafür einen prächtigen Ausdruck gefunden und nennt die Idee,
in dem Sinne, wie ich hier das Wort nehme: "eine inexponible Vorstellung der
Einbildungskraft" (Kritik der Urteilskraft, § 57, Anm. 1).
2) Dass bei Ray, dem Urheber rationeller Pflanzensystematik das echt Geniale
vorwog, beweist schon der eine Umstand, dass er auf dem weit entfernten und
bis zu ihm gänzlich verwahrlosten Gebiet der Ichthyologie genau dasselbe leistete.
Hier ist Anschauungskraft die Göttergabe.

Die Entstehung einer neuen Welt.
matik entdeckt, manches Andere (z. B. die Bedeutung der Blütenteile)
war ihm entgangen, so dass der Mann, der die Gestaltung des Pflanzen-
reiches in ihren Hauptzügen bereits vollkommen richtig übersah, den-
noch ein unhaltbares System entwarf: unsere Kenntnisse waren damals
eben noch nicht eingehend genug, damit Ray’s »Idee« in einer »Theorie«
entsprechende Ausgestaltung hätte finden können. Bei der »Idee« ist,
wie man sieht, der Mensch selber noch ein Stück Natur; es spricht
hier — wenn ich den Vergleich wagen darf — jene »Stimme des
Blutes«, welche das Hauptthema der Erzählungen des Cervantes aus-
macht; der Mensch erblickt Verhältnisse, über die er keine Rechen-
schaft geben kann, er ahnt Dinge, die er nicht im Stande wäre zu
beweisen.1) Das ist kein eigentliches Wissen; es ist der Wiederschein
eines transscendenten Zusammenhangs und ist darum auch eine un-
mittelbare, nicht eine dialektische Erfahrung. Die Deutung solcher
Ahnungen wird immer sehr unsicher sein; auf objektive Gültigkeit
können weder die Ahnungen noch ihre Deutungen Anspruch machen,
sondern ihr Wert bleibt auf das Individuum beschränkt und hängt
durchaus von dessen individueller Bedeutung ab. Hier ist es, wo
das Geniale schöpferisch auftritt. Und ist unsere ganze germanische
Wissenschaft eine Wissenschaft der treuen, peinlich genauen, durch
und durch nüchternen Beobachtung, so ist sie zugleich eine Wissen-
schaft des Genialen. Überall »gehen die Ideen vorher«, da hat Liebig
vollkommen recht; wir sehen es ebenso deutlich bei Galilei wie bei Ray,2)
bei Bichat wie bei Winckelmann, bei Colebrooke wie bei Immanuel
Kant; nur muss man sich hüten, Idee und Theorie zu verwechseln;
denn diese genialen Ideen sind durchaus keine Theorien. Die Theorie
ist der Versuch, eine gewisse Erfahrungsmenge — oft, vielleicht immer
mit Hilfe einer Idee gesammelt — so zu organisieren, dass dieser
künstliche Organismus den Bedürfnissen des spezifischen Menschen-
geistes diene, ohne dass er den bekannten Thatsachen widerspreche
oder Gewalt anthue. Man sieht sofort ein: der relative Wert einer
Theorie wird stets in direktem Verhältnis zu der Anzahl der bekannten

1) Kant hat dafür einen prächtigen Ausdruck gefunden und nennt die Idee,
in dem Sinne, wie ich hier das Wort nehme: »eine inexponible Vorstellung der
Einbildungskraft« (Kritik der Urteilskraft, § 57, Anm. 1).
2) Dass bei Ray, dem Urheber rationeller Pflanzensystematik das echt Geniale
vorwog, beweist schon der eine Umstand, dass er auf dem weit entfernten und
bis zu ihm gänzlich verwahrlosten Gebiet der Ichthyologie genau dasselbe leistete.
Hier ist Anschauungskraft die Göttergabe.
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[796/0275] Die Entstehung einer neuen Welt. matik entdeckt, manches Andere (z. B. die Bedeutung der Blütenteile) war ihm entgangen, so dass der Mann, der die Gestaltung des Pflanzen- reiches in ihren Hauptzügen bereits vollkommen richtig übersah, den- noch ein unhaltbares System entwarf: unsere Kenntnisse waren damals eben noch nicht eingehend genug, damit Ray’s »Idee« in einer »Theorie« entsprechende Ausgestaltung hätte finden können. Bei der »Idee« ist, wie man sieht, der Mensch selber noch ein Stück Natur; es spricht hier — wenn ich den Vergleich wagen darf — jene »Stimme des Blutes«, welche das Hauptthema der Erzählungen des Cervantes aus- macht; der Mensch erblickt Verhältnisse, über die er keine Rechen- schaft geben kann, er ahnt Dinge, die er nicht im Stande wäre zu beweisen. 1) Das ist kein eigentliches Wissen; es ist der Wiederschein eines transscendenten Zusammenhangs und ist darum auch eine un- mittelbare, nicht eine dialektische Erfahrung. Die Deutung solcher Ahnungen wird immer sehr unsicher sein; auf objektive Gültigkeit können weder die Ahnungen noch ihre Deutungen Anspruch machen, sondern ihr Wert bleibt auf das Individuum beschränkt und hängt durchaus von dessen individueller Bedeutung ab. Hier ist es, wo das Geniale schöpferisch auftritt. Und ist unsere ganze germanische Wissenschaft eine Wissenschaft der treuen, peinlich genauen, durch und durch nüchternen Beobachtung, so ist sie zugleich eine Wissen- schaft des Genialen. Überall »gehen die Ideen vorher«, da hat Liebig vollkommen recht; wir sehen es ebenso deutlich bei Galilei wie bei Ray, 2) bei Bichat wie bei Winckelmann, bei Colebrooke wie bei Immanuel Kant; nur muss man sich hüten, Idee und Theorie zu verwechseln; denn diese genialen Ideen sind durchaus keine Theorien. Die Theorie ist der Versuch, eine gewisse Erfahrungsmenge — oft, vielleicht immer mit Hilfe einer Idee gesammelt — so zu organisieren, dass dieser künstliche Organismus den Bedürfnissen des spezifischen Menschen- geistes diene, ohne dass er den bekannten Thatsachen widerspreche oder Gewalt anthue. Man sieht sofort ein: der relative Wert einer Theorie wird stets in direktem Verhältnis zu der Anzahl der bekannten 1) Kant hat dafür einen prächtigen Ausdruck gefunden und nennt die Idee, in dem Sinne, wie ich hier das Wort nehme: »eine inexponible Vorstellung der Einbildungskraft« (Kritik der Urteilskraft, § 57, Anm. 1). 2) Dass bei Ray, dem Urheber rationeller Pflanzensystematik das echt Geniale vorwog, beweist schon der eine Umstand, dass er auf dem weit entfernten und bis zu ihm gänzlich verwahrlosten Gebiet der Ichthyologie genau dasselbe leistete. Hier ist Anschauungskraft die Göttergabe.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 796. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/275>, abgerufen am 21.11.2024.