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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
durchaus nicht aus der Erneuerung verfehlter hellenischer Dogmatik
her, wie man uns das einreden möchte, vielmehr hat diese uns, wie
in der Pflanzensystematik, so auch überall, nur irregeführt, sondern
dieses plötzliche Aufblühen wird direkt durch die Entdeckungen an-
geregt, über die ich im vorigen Abschnitte sprach: Entdeckungen auf
Erden, Entdeckungen am Himmel. Man lese nur die Briefe, in denen
Galilei, zitternd vor Aufregung, über seine Entdeckung der Monde
des Jupiter und des Ringes um Saturn berichtet, Gott dankend, dass
er ihm "solche nie geahnte Wunder" geoffenbart habe, und man wird
sich eine Vorstellung machen, welche mächtige Wirkung das Neue
auf die Phantasie ausübte und wie es zugleich antrieb, weiter zu suchen
und das Gesuchte dem Verständnis näher zu führen. Zu welchen
herrlichen Tollkühnheiten sich der Menschengeist in dieser berau-
schenden Atmosphäre einer neu entdeckten übermenschlichen Natur
hinreissen liess, sahen wir bei Besprechung der Mathematik. Ohne
jene der Phantasie -- doch wahrhaftig nicht der Beobachtung, nicht,
wie Liebig will, den Thatsachen -- entkeimten, absolut genialen
Einfälle wäre höhere Mathematik (damit zugleich die Physik des Himmels,
des Lichtes, der Elektricität, etc.) unmöglich gewesen. Ähnlich aber
überall, und zwar aus dem vorhin genannten einfachen Grunde, weil
sonst diesem Aussermenschlichen gar nicht beizukommen wäre. Die
Geschichte unserer Wissenschaften zwischen 1200 und 1800 ist eine
ununterbrochene Reihe solcher grossartigen Einfälle der Phantasie.
Das bedeutet das Walten des schöpferisch Genialen.

Ein Beispiel.

Wissenschaftliche Chemie war unmöglich (wie wir heute zurück-
blickend einsehen), solange der Sauerstoff als Element nicht entdeckt
war; denn es ist dies der wichtigste Körper unseres Planeten, der-
jenige, von dem sowohl die organischen wie die unorganischen Phäno-
mene der tellurischen Natur ihre besondere Farbe erhalten. In Wasser,
Luft und Felsen, in allem Verbrennen (vom einfachen, langsamen
Oxydieren an bis zum flammenspeienden Feuer), in der Atmung aller
lebenden Wesen -- -- -- kurz, überall ist dieses Element am Werke.
Gerade darum entzog es sich der unmittelbaren Beobachtung; denn
die hervorstechende Eigenschaft des Sauerstoffes ist die Energie, mit
welcher er sich mit anderen Elementen verbindet, mit anderen Worten,
sich der Beobachtung als selbständigen Körper entzieht; auch wo er
nicht an andere Stoffe chemisch gebunden, sondern frei vorkommt,
wie z. B. in der Luft, wo er nur ein mechanisches Gemenge mit

Wissenschaft.
durchaus nicht aus der Erneuerung verfehlter hellenischer Dogmatik
her, wie man uns das einreden möchte, vielmehr hat diese uns, wie
in der Pflanzensystematik, so auch überall, nur irregeführt, sondern
dieses plötzliche Aufblühen wird direkt durch die Entdeckungen an-
geregt, über die ich im vorigen Abschnitte sprach: Entdeckungen auf
Erden, Entdeckungen am Himmel. Man lese nur die Briefe, in denen
Galilei, zitternd vor Aufregung, über seine Entdeckung der Monde
des Jupiter und des Ringes um Saturn berichtet, Gott dankend, dass
er ihm »solche nie geahnte Wunder« geoffenbart habe, und man wird
sich eine Vorstellung machen, welche mächtige Wirkung das Neue
auf die Phantasie ausübte und wie es zugleich antrieb, weiter zu suchen
und das Gesuchte dem Verständnis näher zu führen. Zu welchen
herrlichen Tollkühnheiten sich der Menschengeist in dieser berau-
schenden Atmosphäre einer neu entdeckten übermenschlichen Natur
hinreissen liess, sahen wir bei Besprechung der Mathematik. Ohne
jene der Phantasie — doch wahrhaftig nicht der Beobachtung, nicht,
wie Liebig will, den Thatsachen — entkeimten, absolut genialen
Einfälle wäre höhere Mathematik (damit zugleich die Physik des Himmels,
des Lichtes, der Elektricität, etc.) unmöglich gewesen. Ähnlich aber
überall, und zwar aus dem vorhin genannten einfachen Grunde, weil
sonst diesem Aussermenschlichen gar nicht beizukommen wäre. Die
Geschichte unserer Wissenschaften zwischen 1200 und 1800 ist eine
ununterbrochene Reihe solcher grossartigen Einfälle der Phantasie.
Das bedeutet das Walten des schöpferisch Genialen.

Ein Beispiel.

Wissenschaftliche Chemie war unmöglich (wie wir heute zurück-
blickend einsehen), solange der Sauerstoff als Element nicht entdeckt
war; denn es ist dies der wichtigste Körper unseres Planeten, der-
jenige, von dem sowohl die organischen wie die unorganischen Phäno-
mene der tellurischen Natur ihre besondere Farbe erhalten. In Wasser,
Luft und Felsen, in allem Verbrennen (vom einfachen, langsamen
Oxydieren an bis zum flammenspeienden Feuer), in der Atmung aller
lebenden Wesen — — — kurz, überall ist dieses Element am Werke.
Gerade darum entzog es sich der unmittelbaren Beobachtung; denn
die hervorstechende Eigenschaft des Sauerstoffes ist die Energie, mit
welcher er sich mit anderen Elementen verbindet, mit anderen Worten,
sich der Beobachtung als selbständigen Körper entzieht; auch wo er
nicht an andere Stoffe chemisch gebunden, sondern frei vorkommt,
wie z. B. in der Luft, wo er nur ein mechanisches Gemenge mit

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[801/0280] Wissenschaft. durchaus nicht aus der Erneuerung verfehlter hellenischer Dogmatik her, wie man uns das einreden möchte, vielmehr hat diese uns, wie in der Pflanzensystematik, so auch überall, nur irregeführt, sondern dieses plötzliche Aufblühen wird direkt durch die Entdeckungen an- geregt, über die ich im vorigen Abschnitte sprach: Entdeckungen auf Erden, Entdeckungen am Himmel. Man lese nur die Briefe, in denen Galilei, zitternd vor Aufregung, über seine Entdeckung der Monde des Jupiter und des Ringes um Saturn berichtet, Gott dankend, dass er ihm »solche nie geahnte Wunder« geoffenbart habe, und man wird sich eine Vorstellung machen, welche mächtige Wirkung das Neue auf die Phantasie ausübte und wie es zugleich antrieb, weiter zu suchen und das Gesuchte dem Verständnis näher zu führen. Zu welchen herrlichen Tollkühnheiten sich der Menschengeist in dieser berau- schenden Atmosphäre einer neu entdeckten übermenschlichen Natur hinreissen liess, sahen wir bei Besprechung der Mathematik. Ohne jene der Phantasie — doch wahrhaftig nicht der Beobachtung, nicht, wie Liebig will, den Thatsachen — entkeimten, absolut genialen Einfälle wäre höhere Mathematik (damit zugleich die Physik des Himmels, des Lichtes, der Elektricität, etc.) unmöglich gewesen. Ähnlich aber überall, und zwar aus dem vorhin genannten einfachen Grunde, weil sonst diesem Aussermenschlichen gar nicht beizukommen wäre. Die Geschichte unserer Wissenschaften zwischen 1200 und 1800 ist eine ununterbrochene Reihe solcher grossartigen Einfälle der Phantasie. Das bedeutet das Walten des schöpferisch Genialen. Ein Beispiel. Wissenschaftliche Chemie war unmöglich (wie wir heute zurück- blickend einsehen), solange der Sauerstoff als Element nicht entdeckt war; denn es ist dies der wichtigste Körper unseres Planeten, der- jenige, von dem sowohl die organischen wie die unorganischen Phäno- mene der tellurischen Natur ihre besondere Farbe erhalten. In Wasser, Luft und Felsen, in allem Verbrennen (vom einfachen, langsamen Oxydieren an bis zum flammenspeienden Feuer), in der Atmung aller lebenden Wesen — — — kurz, überall ist dieses Element am Werke. Gerade darum entzog es sich der unmittelbaren Beobachtung; denn die hervorstechende Eigenschaft des Sauerstoffes ist die Energie, mit welcher er sich mit anderen Elementen verbindet, mit anderen Worten, sich der Beobachtung als selbständigen Körper entzieht; auch wo er nicht an andere Stoffe chemisch gebunden, sondern frei vorkommt, wie z. B. in der Luft, wo er nur ein mechanisches Gemenge mit

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 801. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/280>, abgerufen am 22.11.2024.