Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Wissenschaft. und vielleicht gewinnt sie gerade dadurch an Gewicht, dass sie ganznaiv zu Worte kommt. So z. B. machte einer der anerkannt bedeutendsten Naturforscher unseres Jahrhunderts, Lord Kelvin, als er 1896 sein fünfzig- jähriges Professorenjubiläum feierte, das denkwürdige Geständnis: "Ein einziges Wort fasst das Ergebnis alles dessen zusammen, was ich während 55 Jahre gethan habe, um die Wissenschaft zu fördern: dieses Wort ist Misserfolg. Ich weiss heutigen Tages nicht ein Jota mehr, was elektrische oder magnetische Kraft ist, wie Äther, Elektricität und wägbare Materie in ihrem Verhältnis zu einander zu denken sind, oder was wir uns unter chemischer Verwandtschaft vorstellen sollen, als dazumal, wie ich meinen ersten Vortrag hielt." Das ist das Wort eines ehrlichen, wahrheits- liebenden, echt germanischen Mannes, desselben Mannes, der uns die hypothetischen, undenkbaren Atome so nahe gebracht zu haben schien, indem er in einer gutgelaunten Stunde es unternommen hatte, sie der Länge und der Breite nach genau zu messen. Wäre er dazu ein klein bischen Philosoph gewesen, so hätte er freilich nicht nötig gehabt, in so melancholischer Weise von Misserfolg zu sprechen; denn dann hätte er der Wissenschaft nicht ein gänzlich unerreichbares Ziel gesteckt, nämlich die ihr ewig verschlossene absolute Erkenntnis, welche im innersten Herzen wohl keimen mag, nie aber in Gestalt eines that- sächlichen, empirischen "Wissens" wird in der Hand gehalten werden können; und so hätte er sich denn ohne Rückhalt über jene glänzende, freie Gestaltungskraft freuen können, die sich zu bethätigen begann im Augenblick, wo der Germane gegen die bleierne Gewalt des Völker- chaos sich auflehnte, die so reichen civilisatorischen Segen seither ge- bracht hat und die zu noch weit höheren Geschicken bestimmt ist.1) 1) In diesem Zusammenhang möchte ich die besondere Aufmerksamkeit des
Lesers auf den Umschwung der Anschauungen in Bezug auf das Wesen des Lebens lenken. Am Anfang unseres Jahrhunderts hatte man die Kluft zwischen dem Organischen und dem Unorganischen, wenn nicht schon für ausgefüllt, so doch fast für überbrückt gehalten (S. 78); am Schlusse unseres Jahrhunderts gähnt sie -- für alle Kundigen -- weiter als jemals zuvor. Weit entfernt, dass wir im Stande wären, Homunculi auf chemischem Wege in unseren Laboratorien herzustellen, er- fuhren wir zuerst (durch die Arbeiten der Pasteur, Tyndall etc.), dass es nirgendswo generatio spontanea giebt, sondern alles Leben einzig durch Leben gezeugt wird; dann lehrte uns die feinere Anatomie (Virchow), dass jede Zelle eines Körpers nur aus einer schon vorhandenen Zelle entstehen kann; jetzt wissen wir (Wiesner), dass selbst die einfachsten organischen Gebilde der Zelle nicht durch die chemische Thätigkeit des Zelleninhaltes, sondern nur aus den gleichen organisierten Gebilden entstehen, z. B. ein Stärkekorn nur aus einem schon vorhandenen Stärkekorn. Die Wissenschaft. und vielleicht gewinnt sie gerade dadurch an Gewicht, dass sie ganznaiv zu Worte kommt. So z. B. machte einer der anerkannt bedeutendsten Naturforscher unseres Jahrhunderts, Lord Kelvin, als er 1896 sein fünfzig- jähriges Professorenjubiläum feierte, das denkwürdige Geständnis: »Ein einziges Wort fasst das Ergebnis alles dessen zusammen, was ich während 55 Jahre gethan habe, um die Wissenschaft zu fördern: dieses Wort ist Misserfolg. Ich weiss heutigen Tages nicht ein Jota mehr, was elektrische oder magnetische Kraft ist, wie Äther, Elektricität und wägbare Materie in ihrem Verhältnis zu einander zu denken sind, oder was wir uns unter chemischer Verwandtschaft vorstellen sollen, als dazumal, wie ich meinen ersten Vortrag hielt.« Das ist das Wort eines ehrlichen, wahrheits- liebenden, echt germanischen Mannes, desselben Mannes, der uns die hypothetischen, undenkbaren Atome so nahe gebracht zu haben schien, indem er in einer gutgelaunten Stunde es unternommen hatte, sie der Länge und der Breite nach genau zu messen. Wäre er dazu ein klein bischen Philosoph gewesen, so hätte er freilich nicht nötig gehabt, in so melancholischer Weise von Misserfolg zu sprechen; denn dann hätte er der Wissenschaft nicht ein gänzlich unerreichbares Ziel gesteckt, nämlich die ihr ewig verschlossene absolute Erkenntnis, welche im innersten Herzen wohl keimen mag, nie aber in Gestalt eines that- sächlichen, empirischen »Wissens« wird in der Hand gehalten werden können; und so hätte er sich denn ohne Rückhalt über jene glänzende, freie Gestaltungskraft freuen können, die sich zu bethätigen begann im Augenblick, wo der Germane gegen die bleierne Gewalt des Völker- chaos sich auflehnte, die so reichen civilisatorischen Segen seither ge- bracht hat und die zu noch weit höheren Geschicken bestimmt ist.1) 1) In diesem Zusammenhang möchte ich die besondere Aufmerksamkeit des
Lesers auf den Umschwung der Anschauungen in Bezug auf das Wesen des Lebens lenken. Am Anfang unseres Jahrhunderts hatte man die Kluft zwischen dem Organischen und dem Unorganischen, wenn nicht schon für ausgefüllt, so doch fast für überbrückt gehalten (S. 78); am Schlusse unseres Jahrhunderts gähnt sie — für alle Kundigen — weiter als jemals zuvor. Weit entfernt, dass wir im Stande wären, Homunculi auf chemischem Wege in unseren Laboratorien herzustellen, er- fuhren wir zuerst (durch die Arbeiten der Pasteur, Tyndall etc.), dass es nirgendswo generatio spontanea giebt, sondern alles Leben einzig durch Leben gezeugt wird; dann lehrte uns die feinere Anatomie (Virchow), dass jede Zelle eines Körpers nur aus einer schon vorhandenen Zelle entstehen kann; jetzt wissen wir (Wiesner), dass selbst die einfachsten organischen Gebilde der Zelle nicht durch die chemische Thätigkeit des Zelleninhaltes, sondern nur aus den gleichen organisierten Gebilden entstehen, z. B. ein Stärkekorn nur aus einem schon vorhandenen Stärkekorn. Die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0286" n="807"/><fw place="top" type="header">Wissenschaft.</fw><lb/> und vielleicht gewinnt sie gerade dadurch an Gewicht, dass sie ganz<lb/> naiv zu Worte kommt. So z. B. machte einer der anerkannt bedeutendsten<lb/> Naturforscher unseres Jahrhunderts, Lord Kelvin, als er 1896 sein fünfzig-<lb/> jähriges Professorenjubiläum feierte, das denkwürdige Geständnis: »Ein<lb/> einziges Wort fasst das Ergebnis alles dessen zusammen, was ich während<lb/> 55 Jahre gethan habe, um die Wissenschaft zu fördern: dieses Wort ist<lb/> Misserfolg. Ich weiss heutigen Tages nicht ein Jota mehr, was elektrische<lb/> oder magnetische Kraft ist, wie Äther, Elektricität und wägbare Materie<lb/> in ihrem Verhältnis zu einander zu denken sind, oder was wir uns unter<lb/> chemischer Verwandtschaft vorstellen sollen, als dazumal, wie ich meinen<lb/> ersten Vortrag hielt.« Das ist das Wort eines ehrlichen, wahrheits-<lb/> liebenden, echt germanischen Mannes, desselben Mannes, der uns die<lb/> hypothetischen, undenkbaren Atome so nahe gebracht zu haben schien,<lb/> indem er in einer gutgelaunten Stunde es unternommen hatte, sie der<lb/> Länge und der Breite nach genau zu messen. Wäre er dazu ein klein<lb/> bischen Philosoph gewesen, so hätte er freilich nicht nötig gehabt, in<lb/> so melancholischer Weise von Misserfolg zu sprechen; denn dann hätte<lb/> er der Wissenschaft nicht ein gänzlich unerreichbares Ziel gesteckt,<lb/> nämlich die ihr ewig verschlossene absolute Erkenntnis, welche im<lb/> innersten Herzen wohl keimen mag, nie aber in Gestalt eines that-<lb/> sächlichen, empirischen »Wissens« wird in der Hand gehalten werden<lb/> können; und so hätte er sich denn ohne Rückhalt über jene glänzende,<lb/> freie Gestaltungskraft freuen können, die sich zu bethätigen begann im<lb/> Augenblick, wo der Germane gegen die bleierne Gewalt des Völker-<lb/> chaos sich auflehnte, die so reichen civilisatorischen Segen seither ge-<lb/> bracht hat und die zu noch weit höheren Geschicken bestimmt ist.<note xml:id="seg2pn_22_1" next="#seg2pn_22_2" place="foot" n="1)">In diesem Zusammenhang möchte ich die besondere Aufmerksamkeit des<lb/> Lesers auf den Umschwung der Anschauungen in Bezug auf das Wesen des Lebens<lb/> lenken. Am Anfang unseres Jahrhunderts hatte man die Kluft zwischen dem<lb/> Organischen und dem Unorganischen, wenn nicht schon für ausgefüllt, so doch<lb/> fast für überbrückt gehalten (S. 78); am Schlusse unseres Jahrhunderts gähnt sie —<lb/> für alle Kundigen — weiter als jemals zuvor. Weit entfernt, dass wir im Stande<lb/> wären, <hi rendition="#i">Homunculi</hi> auf chemischem Wege in unseren Laboratorien herzustellen, er-<lb/> fuhren wir zuerst (durch die Arbeiten der Pasteur, Tyndall etc.), dass es nirgendswo<lb/><hi rendition="#i">generatio spontanea</hi> giebt, sondern alles Leben einzig durch Leben gezeugt wird;<lb/> dann lehrte uns die feinere Anatomie (Virchow), dass jede Zelle eines Körpers nur<lb/> aus einer schon vorhandenen Zelle entstehen kann; jetzt wissen wir (Wiesner), dass<lb/> selbst die einfachsten organischen Gebilde der Zelle nicht durch die chemische<lb/> Thätigkeit des Zelleninhaltes, sondern nur aus den gleichen organisierten Gebilden<lb/> entstehen, z. B. ein Stärkekorn nur aus einem schon vorhandenen Stärkekorn. Die</note></p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [807/0286]
Wissenschaft.
und vielleicht gewinnt sie gerade dadurch an Gewicht, dass sie ganz
naiv zu Worte kommt. So z. B. machte einer der anerkannt bedeutendsten
Naturforscher unseres Jahrhunderts, Lord Kelvin, als er 1896 sein fünfzig-
jähriges Professorenjubiläum feierte, das denkwürdige Geständnis: »Ein
einziges Wort fasst das Ergebnis alles dessen zusammen, was ich während
55 Jahre gethan habe, um die Wissenschaft zu fördern: dieses Wort ist
Misserfolg. Ich weiss heutigen Tages nicht ein Jota mehr, was elektrische
oder magnetische Kraft ist, wie Äther, Elektricität und wägbare Materie
in ihrem Verhältnis zu einander zu denken sind, oder was wir uns unter
chemischer Verwandtschaft vorstellen sollen, als dazumal, wie ich meinen
ersten Vortrag hielt.« Das ist das Wort eines ehrlichen, wahrheits-
liebenden, echt germanischen Mannes, desselben Mannes, der uns die
hypothetischen, undenkbaren Atome so nahe gebracht zu haben schien,
indem er in einer gutgelaunten Stunde es unternommen hatte, sie der
Länge und der Breite nach genau zu messen. Wäre er dazu ein klein
bischen Philosoph gewesen, so hätte er freilich nicht nötig gehabt, in
so melancholischer Weise von Misserfolg zu sprechen; denn dann hätte
er der Wissenschaft nicht ein gänzlich unerreichbares Ziel gesteckt,
nämlich die ihr ewig verschlossene absolute Erkenntnis, welche im
innersten Herzen wohl keimen mag, nie aber in Gestalt eines that-
sächlichen, empirischen »Wissens« wird in der Hand gehalten werden
können; und so hätte er sich denn ohne Rückhalt über jene glänzende,
freie Gestaltungskraft freuen können, die sich zu bethätigen begann im
Augenblick, wo der Germane gegen die bleierne Gewalt des Völker-
chaos sich auflehnte, die so reichen civilisatorischen Segen seither ge-
bracht hat und die zu noch weit höheren Geschicken bestimmt ist. 1)
1) In diesem Zusammenhang möchte ich die besondere Aufmerksamkeit des
Lesers auf den Umschwung der Anschauungen in Bezug auf das Wesen des Lebens
lenken. Am Anfang unseres Jahrhunderts hatte man die Kluft zwischen dem
Organischen und dem Unorganischen, wenn nicht schon für ausgefüllt, so doch
fast für überbrückt gehalten (S. 78); am Schlusse unseres Jahrhunderts gähnt sie —
für alle Kundigen — weiter als jemals zuvor. Weit entfernt, dass wir im Stande
wären, Homunculi auf chemischem Wege in unseren Laboratorien herzustellen, er-
fuhren wir zuerst (durch die Arbeiten der Pasteur, Tyndall etc.), dass es nirgendswo
generatio spontanea giebt, sondern alles Leben einzig durch Leben gezeugt wird;
dann lehrte uns die feinere Anatomie (Virchow), dass jede Zelle eines Körpers nur
aus einer schon vorhandenen Zelle entstehen kann; jetzt wissen wir (Wiesner), dass
selbst die einfachsten organischen Gebilde der Zelle nicht durch die chemische
Thätigkeit des Zelleninhaltes, sondern nur aus den gleichen organisierten Gebilden
entstehen, z. B. ein Stärkekorn nur aus einem schon vorhandenen Stärkekorn. Die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |