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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
14. Jahrhundert eingehend zu beschäftigen; es geschah nicht vom
Standpunkte des pragmatisierenden Historikers aus, sondern lediglich,
um ein recht lebhaftes Bild jener energischen Zeit, in welcher Bürger-
tum und Freiheit so prächtig aufblühten, zu erlangen; dabei fiel mir
das eine sehr auf: dass die grossen Männer dieses stürmisch vorwärts
drängenden Jahrhunderts, des Jahrhunderts "des kühn - verwegenen
Fortschrittes"1) -- ein Jakob von Artevelde, ein Cola Rienzi, ein
John Wyclif, ein Etienne Marcel -- von ihren in den ererbten Vor-
stellungen des 13. Jahrhunderts erzogenen Zeitgenossen nicht verstanden
wurden und daran zu Grunde gingen; sie hatten ihre Gedanken zu
schnell in eine neue Form gekleidet. Ich glaube fast, die Hastigkeit, die
uns als Kennzeichen des heutigen Tages so auffällt, war uns immer zu
eigen; wir haben uns nie Zeit gelassen, uns auszuleben: die Verteilung des
Vermögens, das Verhältnis der Klassen zu einander, sowie überhaupt alles,
was das öffentliche Leben der Gesellschaft ausmacht, bleibt bei uns in
einem beständigen Hin- und Herschaukeln befangen. Im Verhältnis zur
Wirtschaft ist sogar die Politik noch stabil, denn die grossen dyna-
stischen Interessen, später die Interessen der Völker bilden doch einen
gewichtigen Ballast, während Handel, Städteleben, der relative Wert
des Landbaues, das Auftreten und Verschwinden des Proletariats, die
Concentrierung und die Verteilung der vorhandenen Kapitalien u. s. w.
fast lediglich der Wirkung der in meiner Allgemeinen Einleitung ge-
nannten "anonymen Mächte" unterliegen. Aus allen diesen Erwägungen
erhellt, dass vergangene Civilisation kaum in irgend einer Beziehung
als eine noch lebende "Grundlage" der Gegenwart zu betrachten ist.

Autonomie
unserer neuen
Industrie.

Was nun speziell die Industrie anbelangt, so ist es klar, dass sie
nicht allein in ihren Existenzbedingungen von den Launen der proteus-
artigen Wirtschaft und der flatterhaften Politik betroffen, sondern dass
ihre Möglichkeit und besondere Art in erster Reihe von dem Zustand
unseres Wissens bedingt wird. Hier enthält also die Gleichung -- wie
der Mathematiker sagen würde -- zwei veränderliche Faktoren, von
denen der eine (die Wirtschaft) nach jeder Richtung variabel ist, der
andere (das Wissen) zwar nur in einer bestimmten Richtung, doch mit
wechselnder Geschwindigkeit wächst. Man sieht, es handelt sich bei
der Industrie um ein gar bewegliches Ding, dem oft -- wie heute --
ein sehr intensives, doch stets ein unsicheres, unbeständiges Leben
innewohnt. Zwar kann es sich ereignen, dass die Industrie mit grosser

1) Lamprecht, Deutsches Städteleben am Schluss des Mittelalters, 1884, S. 36.

Die Entstehung einer neuen Welt.
14. Jahrhundert eingehend zu beschäftigen; es geschah nicht vom
Standpunkte des pragmatisierenden Historikers aus, sondern lediglich,
um ein recht lebhaftes Bild jener energischen Zeit, in welcher Bürger-
tum und Freiheit so prächtig aufblühten, zu erlangen; dabei fiel mir
das eine sehr auf: dass die grossen Männer dieses stürmisch vorwärts
drängenden Jahrhunderts, des Jahrhunderts »des kühn - verwegenen
Fortschrittes«1) — ein Jakob von Artevelde, ein Cola Rienzi, ein
John Wyclif, ein Etienne Marcel — von ihren in den ererbten Vor-
stellungen des 13. Jahrhunderts erzogenen Zeitgenossen nicht verstanden
wurden und daran zu Grunde gingen; sie hatten ihre Gedanken zu
schnell in eine neue Form gekleidet. Ich glaube fast, die Hastigkeit, die
uns als Kennzeichen des heutigen Tages so auffällt, war uns immer zu
eigen; wir haben uns nie Zeit gelassen, uns auszuleben: die Verteilung des
Vermögens, das Verhältnis der Klassen zu einander, sowie überhaupt alles,
was das öffentliche Leben der Gesellschaft ausmacht, bleibt bei uns in
einem beständigen Hin- und Herschaukeln befangen. Im Verhältnis zur
Wirtschaft ist sogar die Politik noch stabil, denn die grossen dyna-
stischen Interessen, später die Interessen der Völker bilden doch einen
gewichtigen Ballast, während Handel, Städteleben, der relative Wert
des Landbaues, das Auftreten und Verschwinden des Proletariats, die
Concentrierung und die Verteilung der vorhandenen Kapitalien u. s. w.
fast lediglich der Wirkung der in meiner Allgemeinen Einleitung ge-
nannten »anonymen Mächte« unterliegen. Aus allen diesen Erwägungen
erhellt, dass vergangene Civilisation kaum in irgend einer Beziehung
als eine noch lebende »Grundlage« der Gegenwart zu betrachten ist.

Autonomie
unserer neuen
Industrie.

Was nun speziell die Industrie anbelangt, so ist es klar, dass sie
nicht allein in ihren Existenzbedingungen von den Launen der proteus-
artigen Wirtschaft und der flatterhaften Politik betroffen, sondern dass
ihre Möglichkeit und besondere Art in erster Reihe von dem Zustand
unseres Wissens bedingt wird. Hier enthält also die Gleichung — wie
der Mathematiker sagen würde — zwei veränderliche Faktoren, von
denen der eine (die Wirtschaft) nach jeder Richtung variabel ist, der
andere (das Wissen) zwar nur in einer bestimmten Richtung, doch mit
wechselnder Geschwindigkeit wächst. Man sieht, es handelt sich bei
der Industrie um ein gar bewegliches Ding, dem oft — wie heute —
ein sehr intensives, doch stets ein unsicheres, unbeständiges Leben
innewohnt. Zwar kann es sich ereignen, dass die Industrie mit grosser

1) Lamprecht, Deutsches Städteleben am Schluss des Mittelalters, 1884, S. 36.
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[812/0291] Die Entstehung einer neuen Welt. 14. Jahrhundert eingehend zu beschäftigen; es geschah nicht vom Standpunkte des pragmatisierenden Historikers aus, sondern lediglich, um ein recht lebhaftes Bild jener energischen Zeit, in welcher Bürger- tum und Freiheit so prächtig aufblühten, zu erlangen; dabei fiel mir das eine sehr auf: dass die grossen Männer dieses stürmisch vorwärts drängenden Jahrhunderts, des Jahrhunderts »des kühn - verwegenen Fortschrittes« 1) — ein Jakob von Artevelde, ein Cola Rienzi, ein John Wyclif, ein Etienne Marcel — von ihren in den ererbten Vor- stellungen des 13. Jahrhunderts erzogenen Zeitgenossen nicht verstanden wurden und daran zu Grunde gingen; sie hatten ihre Gedanken zu schnell in eine neue Form gekleidet. Ich glaube fast, die Hastigkeit, die uns als Kennzeichen des heutigen Tages so auffällt, war uns immer zu eigen; wir haben uns nie Zeit gelassen, uns auszuleben: die Verteilung des Vermögens, das Verhältnis der Klassen zu einander, sowie überhaupt alles, was das öffentliche Leben der Gesellschaft ausmacht, bleibt bei uns in einem beständigen Hin- und Herschaukeln befangen. Im Verhältnis zur Wirtschaft ist sogar die Politik noch stabil, denn die grossen dyna- stischen Interessen, später die Interessen der Völker bilden doch einen gewichtigen Ballast, während Handel, Städteleben, der relative Wert des Landbaues, das Auftreten und Verschwinden des Proletariats, die Concentrierung und die Verteilung der vorhandenen Kapitalien u. s. w. fast lediglich der Wirkung der in meiner Allgemeinen Einleitung ge- nannten »anonymen Mächte« unterliegen. Aus allen diesen Erwägungen erhellt, dass vergangene Civilisation kaum in irgend einer Beziehung als eine noch lebende »Grundlage« der Gegenwart zu betrachten ist. Was nun speziell die Industrie anbelangt, so ist es klar, dass sie nicht allein in ihren Existenzbedingungen von den Launen der proteus- artigen Wirtschaft und der flatterhaften Politik betroffen, sondern dass ihre Möglichkeit und besondere Art in erster Reihe von dem Zustand unseres Wissens bedingt wird. Hier enthält also die Gleichung — wie der Mathematiker sagen würde — zwei veränderliche Faktoren, von denen der eine (die Wirtschaft) nach jeder Richtung variabel ist, der andere (das Wissen) zwar nur in einer bestimmten Richtung, doch mit wechselnder Geschwindigkeit wächst. Man sieht, es handelt sich bei der Industrie um ein gar bewegliches Ding, dem oft — wie heute — ein sehr intensives, doch stets ein unsicheres, unbeständiges Leben innewohnt. Zwar kann es sich ereignen, dass die Industrie mit grosser 1) Lamprecht, Deutsches Städteleben am Schluss des Mittelalters, 1884, S. 36.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 812. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/291>, abgerufen am 21.11.2024.