Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. -- nicht in der Vernunft -- Auftrag regiert. Da mag man wohl mitShakespeare ausrufen: "Politik, o du Häretiker!" Vollendet wird dieses politische Gebäude durch die stete Betonung der deutschen Nation im Gegensatz zu den "Papisten". An den "Adel deutscher Nation" wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen, sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit der Person. "Der Papst und die Seinen mögen sich nicht rühmen, dass sie deutscher Nation gross gut gethan haben mit Verleihung dieses römischen Reiches. Zum ersten darum, dass sie nichts Gutes uns darinnen gegönnt, sondern unsere Einfältigkeit dabei gemissbraucht haben, zum anderen, weil der Papst dadurch nicht uns, sondern sich selbst das Kaisertum zuzueignen gesucht hat, um sich alle unsere Gewalt, Freiheit, Gut, Leib und Seele zu unterwerfen, und durch uns (wo es Gott nicht gewehrt hätte) alle Welt."1) Luther ist der erste Mann, der sich der Bedeutung des Kampfes zwischen Imperialis- mus und Nationalismus vollkommen bewusst ist; Andere hatten sie nur geahnt und sich entweder, wie die gebildeten Bürger der meisten deutschen Städte, auf das religiöse Thema beschränkt, hier deutsch gefühlt und gehandelt, doch ohne die Notwendigkeit einer kirchlich- politischen Empörung einzusehen, oder aber sie führten hochfliegende, kühne Pläne im Schilde, wie Sickingen und Hutten -- von denen Letzterer als sein klares Ziel erkannte, "die römische Tyrannei brechen und der wälschen Krankheit ein Ziel setzen" --, es fehlte ihnen aber das Verständnis für die breiten Grundlagen, welche gelegt werden mussten, sollte man einer so starken Festung wie Rom den Krieg mit Aussicht auf Erfolg erklären können.2) Dagegen Luther, während er 1) Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. Eine Behauptung, die ein unverdächtiger Zeuge, Montesquieu, später bestätigt: "Si les Jesuites etaient venus avant Luther et Calvin, ils auraient ete les maeitres du monde" (Pensees diverses). 2) Um einzusehen, wie allgemein die religiöse Empörung gegen Rom in
ganz Deutschland geraume Zeit vor Luther war, sind die verschiedenen Schriften Ludwig Keller's zu empfehlen und zwar von den mir bekannten besonders die kleinste, betitelt: Die Anfänge der Reformation und die Ketzerschulen (in den von der Comenius-Gesellschaft herausgegebenen Schriften erschienen). Ein unverdächtiger Zeuge der Stimmung, welche durch ganz Deutschland zu Zeiten Luther's wehte, ist der berühmte Nuntius Aleander, der von Worms aus (am 8. Februar 1521) dem Papst berichtet, neun Zehntel der Deutschen seien für Luther, und das übrige Zehntel, wenn auch nicht gerade für Luther eingenommen, rufe dennoch: Tod dem römischen Hofe! Dass fast der gesamte deutsche Klerus im Herzen gegen Die Entstehung einer neuen Welt. — nicht in der Vernunft — Auftrag regiert. Da mag man wohl mitShakespeare ausrufen: »Politik, o du Häretiker!« Vollendet wird dieses politische Gebäude durch die stete Betonung der deutschen Nation im Gegensatz zu den »Papisten«. An den »Adel deutscher Nation« wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen, sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit der Person. »Der Papst und die Seinen mögen sich nicht rühmen, dass sie deutscher Nation gross gut gethan haben mit Verleihung dieses römischen Reiches. Zum ersten darum, dass sie nichts Gutes uns darinnen gegönnt, sondern unsere Einfältigkeit dabei gemissbraucht haben, zum anderen, weil der Papst dadurch nicht uns, sondern sich selbst das Kaisertum zuzueignen gesucht hat, um sich alle unsere Gewalt, Freiheit, Gut, Leib und Seele zu unterwerfen, und durch uns (wo es Gott nicht gewehrt hätte) alle Welt.«1) Luther ist der erste Mann, der sich der Bedeutung des Kampfes zwischen Imperialis- mus und Nationalismus vollkommen bewusst ist; Andere hatten sie nur geahnt und sich entweder, wie die gebildeten Bürger der meisten deutschen Städte, auf das religiöse Thema beschränkt, hier deutsch gefühlt und gehandelt, doch ohne die Notwendigkeit einer kirchlich- politischen Empörung einzusehen, oder aber sie führten hochfliegende, kühne Pläne im Schilde, wie Sickingen und Hutten — von denen Letzterer als sein klares Ziel erkannte, »die römische Tyrannei brechen und der wälschen Krankheit ein Ziel setzen« —, es fehlte ihnen aber das Verständnis für die breiten Grundlagen, welche gelegt werden mussten, sollte man einer so starken Festung wie Rom den Krieg mit Aussicht auf Erfolg erklären können.2) Dagegen Luther, während er 1) Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. Eine Behauptung, die ein unverdächtiger Zeuge, Montesquieu, später bestätigt: »Si les Jésuites étaient venus avant Luther et Calvin, ils auraient été les maîtres du monde« (Pensées diverses). 2) Um einzusehen, wie allgemein die religiöse Empörung gegen Rom in
ganz Deutschland geraume Zeit vor Luther war, sind die verschiedenen Schriften Ludwig Keller’s zu empfehlen und zwar von den mir bekannten besonders die kleinste, betitelt: Die Anfänge der Reformation und die Ketzerschulen (in den von der Comenius-Gesellschaft herausgegebenen Schriften erschienen). Ein unverdächtiger Zeuge der Stimmung, welche durch ganz Deutschland zu Zeiten Luther’s wehte, ist der berühmte Nuntius Aleander, der von Worms aus (am 8. Februar 1521) dem Papst berichtet, neun Zehntel der Deutschen seien für Luther, und das übrige Zehntel, wenn auch nicht gerade für Luther eingenommen, rufe dennoch: Tod dem römischen Hofe! Dass fast der gesamte deutsche Klerus im Herzen gegen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0321" n="842"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/> — nicht in der Vernunft — Auftrag regiert. Da mag man wohl mit<lb/> Shakespeare ausrufen: »Politik, o du Häretiker!« Vollendet wird dieses<lb/> politische Gebäude durch die stete Betonung der <hi rendition="#g">deutschen Nation</hi><lb/> im Gegensatz zu den »Papisten«. An den »Adel deutscher Nation«<lb/> wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen<lb/> gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen,<lb/> sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit<lb/> der Person. »Der Papst und die Seinen mögen sich nicht rühmen, dass<lb/> sie deutscher Nation gross gut gethan haben mit Verleihung dieses<lb/> römischen Reiches. Zum ersten darum, dass sie nichts Gutes uns<lb/> darinnen gegönnt, sondern unsere Einfältigkeit dabei gemissbraucht<lb/> haben, zum anderen, weil der Papst dadurch nicht uns, sondern <hi rendition="#g">sich<lb/> selbst das Kaisertum zuzueignen gesucht hat,</hi> um sich alle<lb/> unsere Gewalt, Freiheit, Gut, Leib und Seele zu unterwerfen, und<lb/> durch uns (wo es Gott nicht gewehrt hätte) alle Welt.«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation.</hi> Eine Behauptung,<lb/> die ein unverdächtiger Zeuge, Montesquieu, später bestätigt: <hi rendition="#i">»Si les Jésuites étaient<lb/> venus avant Luther et Calvin, ils auraient été les maîtres du monde« (Pensées diverses).</hi></note> Luther ist<lb/> der erste Mann, der sich der Bedeutung des Kampfes zwischen Imperialis-<lb/> mus und Nationalismus vollkommen bewusst ist; Andere hatten sie<lb/> nur geahnt und sich entweder, wie die gebildeten Bürger der meisten<lb/> deutschen Städte, auf das religiöse Thema beschränkt, hier deutsch<lb/> gefühlt und gehandelt, doch ohne die Notwendigkeit einer kirchlich-<lb/> politischen Empörung einzusehen, oder aber sie führten hochfliegende,<lb/> kühne Pläne im Schilde, wie Sickingen und Hutten — von denen<lb/> Letzterer als sein klares Ziel erkannte, »die römische Tyrannei brechen<lb/> und der wälschen Krankheit ein Ziel setzen« —, es fehlte ihnen aber<lb/> das Verständnis für die breiten Grundlagen, welche gelegt werden<lb/> mussten, sollte man einer so starken Festung wie Rom den Krieg mit<lb/> Aussicht auf Erfolg erklären können.<note xml:id="seg2pn_25_1" next="#seg2pn_25_2" place="foot" n="2)">Um einzusehen, wie allgemein die religiöse Empörung gegen Rom in<lb/> ganz Deutschland geraume Zeit vor Luther war, sind die verschiedenen Schriften<lb/> Ludwig Keller’s zu empfehlen und zwar von den mir bekannten besonders die<lb/> kleinste, betitelt: <hi rendition="#i">Die Anfänge der Reformation und die Ketzerschulen</hi> (in den von der<lb/> Comenius-Gesellschaft herausgegebenen Schriften erschienen). Ein unverdächtiger<lb/> Zeuge der Stimmung, welche durch ganz Deutschland zu Zeiten Luther’s wehte,<lb/> ist der berühmte Nuntius Aleander, der von Worms aus (am 8. Februar 1521) dem<lb/> Papst berichtet, neun Zehntel der Deutschen seien für Luther, und das übrige<lb/> Zehntel, wenn auch nicht gerade für Luther eingenommen, rufe dennoch: Tod<lb/> dem römischen Hofe! Dass fast der gesamte deutsche Klerus im Herzen gegen</note> Dagegen Luther, während er<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [842/0321]
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— nicht in der Vernunft — Auftrag regiert. Da mag man wohl mit
Shakespeare ausrufen: »Politik, o du Häretiker!« Vollendet wird dieses
politische Gebäude durch die stete Betonung der deutschen Nation
im Gegensatz zu den »Papisten«. An den »Adel deutscher Nation«
wendet sich der deutsche Bauernsohn, und zwar, um ihn aufzurufen
gegen den Fremden, nicht aber dieses oder jenes subtilen Dogmas wegen,
sondern im Interesse der nationalen Unabhängigkeit und der Freiheit
der Person. »Der Papst und die Seinen mögen sich nicht rühmen, dass
sie deutscher Nation gross gut gethan haben mit Verleihung dieses
römischen Reiches. Zum ersten darum, dass sie nichts Gutes uns
darinnen gegönnt, sondern unsere Einfältigkeit dabei gemissbraucht
haben, zum anderen, weil der Papst dadurch nicht uns, sondern sich
selbst das Kaisertum zuzueignen gesucht hat, um sich alle
unsere Gewalt, Freiheit, Gut, Leib und Seele zu unterwerfen, und
durch uns (wo es Gott nicht gewehrt hätte) alle Welt.« 1) Luther ist
der erste Mann, der sich der Bedeutung des Kampfes zwischen Imperialis-
mus und Nationalismus vollkommen bewusst ist; Andere hatten sie
nur geahnt und sich entweder, wie die gebildeten Bürger der meisten
deutschen Städte, auf das religiöse Thema beschränkt, hier deutsch
gefühlt und gehandelt, doch ohne die Notwendigkeit einer kirchlich-
politischen Empörung einzusehen, oder aber sie führten hochfliegende,
kühne Pläne im Schilde, wie Sickingen und Hutten — von denen
Letzterer als sein klares Ziel erkannte, »die römische Tyrannei brechen
und der wälschen Krankheit ein Ziel setzen« —, es fehlte ihnen aber
das Verständnis für die breiten Grundlagen, welche gelegt werden
mussten, sollte man einer so starken Festung wie Rom den Krieg mit
Aussicht auf Erfolg erklären können. 2) Dagegen Luther, während er
1) Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. Eine Behauptung,
die ein unverdächtiger Zeuge, Montesquieu, später bestätigt: »Si les Jésuites étaient
venus avant Luther et Calvin, ils auraient été les maîtres du monde« (Pensées diverses).
2) Um einzusehen, wie allgemein die religiöse Empörung gegen Rom in
ganz Deutschland geraume Zeit vor Luther war, sind die verschiedenen Schriften
Ludwig Keller’s zu empfehlen und zwar von den mir bekannten besonders die
kleinste, betitelt: Die Anfänge der Reformation und die Ketzerschulen (in den von der
Comenius-Gesellschaft herausgegebenen Schriften erschienen). Ein unverdächtiger
Zeuge der Stimmung, welche durch ganz Deutschland zu Zeiten Luther’s wehte,
ist der berühmte Nuntius Aleander, der von Worms aus (am 8. Februar 1521) dem
Papst berichtet, neun Zehntel der Deutschen seien für Luther, und das übrige
Zehntel, wenn auch nicht gerade für Luther eingenommen, rufe dennoch: Tod
dem römischen Hofe! Dass fast der gesamte deutsche Klerus im Herzen gegen
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