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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
unsere Religion -- ist das Unfertigste an uns. Hier also ist die ge-
schichtliche Methode geboten; nur durch sie kann es gelingen, die
verschiedenen Fäden so aufzufangen und zu verfolgen, dass die Struktur
des Gewebes, wie es das Jahr 1800 uns übermachte, deutlich erblickt
und überblickt werde.1)

Das kirchliche Christentum, rein als Religion, besteht -- wie ich
das im siebten Kapitel auseinanderzusetzen bestrebt war -- aus unaus-
geglichenen Elementen, so dass wir Paulus und Augustinus in die
schlimmsten Widersprüche verwickelt fanden. Es handelt sich eben
beim Christentum nicht um eine normale religiöse Weltanschauung,
sondern um eine künstliche, gewaltsam zusammengeschmiedete. So-
bald nun echt philosophische Regungen erwachten -- was beim Römer
zu keiner Zeit der Fall gewesen war, beim Germanen dagegen nicht
ausbleiben konnte -- da musste die widerspruchsvolle Natur dieses
Glaubens sich mit Gewalt fühlbar machen; und in der That, es ge-
währt einen geradezu tragischen Anblick, edle Männer wie Scotus
Erigena im 9. und Abälard im 12. Jahrhundert sich hin- und her-
winden zu sehen in dem hoffnungslosen Bestreben, den ihnen aufge-
drungenen Glaubenskomplex mit sich selbst und ausserdem mit den
Forderungen einer ehrlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Da

1) Ich werde nicht aus den Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie
abschreiben, schon deswegen nicht, weil es kein einziges giebt, welches meinem
Zweck an diesem Orte entspräche. Doch verweise ich hier ein für allemal auf die
bekannten, vortrefflichen Handbücher, denen ich im Folgenden vieles verdanke.
Hoffentlich wird in nicht allzu ferner Zeit Paul Deussen's Allgemeine Geschichte der
Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religion
so weit gefördert sein, dass sie
die von mir bei der Abfassung dieses Abschnittes so schmerzlich empfundene Lücke
wenigstens zum Teil ausfüllt. Schon die blosse Thatsache, dass er die Religion hin-
zuzieht, beweisst Deussen's Befähigung, die neue Aufgabe zu lösen, und seine lange
Beschäftigung mit indischem Denken ist eine fernere Bürgschaft. Inzwischen empfehle
ich dem weniger bewanderten Leser die kurze Skizze einer Geschichte der Lehre vom
Idealen und Realen,
die den ersten Band von Schopenhauer's Parerga und Paralipomena
eröffnet; auf wenigen Seiten bietet sie einen leuchtend klaren Überblick des ger-
manischen Denkens auf seinen höchsten Höhen, von Descartes bis Kant und Schopen-
hauer. Die beste Einführung in allgemeine Philosophie, die es überhaupt giebt, ist,
nach meinem Dafürhalten (und so weit meine beschränkten Litteraturkenntnisse
reichen) Friedrich Albert Lange's: Geschichte des Materialismus. Indem dieser Verfasser
sich auf einen besonderen Standpunkt stellt, belebt sich das gesamte Bild des euro-
päischen Denkens von Demokrit bis zu Hartmann, und in der gesunden Atmo-
sphäre einer eingestandenen, zu Widerspruch reizenden Einseitigkeit atmet man
wie erlöst auf aus der erlogenen Unparteilichkeit der in Masken verhüllten Akademiker.

Die Entstehung einer neuen Welt.
unsere Religion — ist das Unfertigste an uns. Hier also ist die ge-
schichtliche Methode geboten; nur durch sie kann es gelingen, die
verschiedenen Fäden so aufzufangen und zu verfolgen, dass die Struktur
des Gewebes, wie es das Jahr 1800 uns übermachte, deutlich erblickt
und überblickt werde.1)

Das kirchliche Christentum, rein als Religion, besteht — wie ich
das im siebten Kapitel auseinanderzusetzen bestrebt war — aus unaus-
geglichenen Elementen, so dass wir Paulus und Augustinus in die
schlimmsten Widersprüche verwickelt fanden. Es handelt sich eben
beim Christentum nicht um eine normale religiöse Weltanschauung,
sondern um eine künstliche, gewaltsam zusammengeschmiedete. So-
bald nun echt philosophische Regungen erwachten — was beim Römer
zu keiner Zeit der Fall gewesen war, beim Germanen dagegen nicht
ausbleiben konnte — da musste die widerspruchsvolle Natur dieses
Glaubens sich mit Gewalt fühlbar machen; und in der That, es ge-
währt einen geradezu tragischen Anblick, edle Männer wie Scotus
Erigena im 9. und Abälard im 12. Jahrhundert sich hin- und her-
winden zu sehen in dem hoffnungslosen Bestreben, den ihnen aufge-
drungenen Glaubenskomplex mit sich selbst und ausserdem mit den
Forderungen einer ehrlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Da

1) Ich werde nicht aus den Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie
abschreiben, schon deswegen nicht, weil es kein einziges giebt, welches meinem
Zweck an diesem Orte entspräche. Doch verweise ich hier ein für allemal auf die
bekannten, vortrefflichen Handbücher, denen ich im Folgenden vieles verdanke.
Hoffentlich wird in nicht allzu ferner Zeit Paul Deussen’s Allgemeine Geschichte der
Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religion
so weit gefördert sein, dass sie
die von mir bei der Abfassung dieses Abschnittes so schmerzlich empfundene Lücke
wenigstens zum Teil ausfüllt. Schon die blosse Thatsache, dass er die Religion hin-
zuzieht, beweisst Deussen’s Befähigung, die neue Aufgabe zu lösen, und seine lange
Beschäftigung mit indischem Denken ist eine fernere Bürgschaft. Inzwischen empfehle
ich dem weniger bewanderten Leser die kurze Skizze einer Geschichte der Lehre vom
Idealen und Realen,
die den ersten Band von Schopenhauer’s Parerga und Paralipomena
eröffnet; auf wenigen Seiten bietet sie einen leuchtend klaren Überblick des ger-
manischen Denkens auf seinen höchsten Höhen, von Descartes bis Kant und Schopen-
hauer. Die beste Einführung in allgemeine Philosophie, die es überhaupt giebt, ist,
nach meinem Dafürhalten (und so weit meine beschränkten Litteraturkenntnisse
reichen) Friedrich Albert Lange’s: Geschichte des Materialismus. Indem dieser Verfasser
sich auf einen besonderen Standpunkt stellt, belebt sich das gesamte Bild des euro-
päischen Denkens von Demokrit bis zu Hartmann, und in der gesunden Atmo-
sphäre einer eingestandenen, zu Widerspruch reizenden Einseitigkeit atmet man
wie erlöst auf aus der erlogenen Unparteilichkeit der in Masken verhüllten Akademiker.
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[860/0339] Die Entstehung einer neuen Welt. unsere Religion — ist das Unfertigste an uns. Hier also ist die ge- schichtliche Methode geboten; nur durch sie kann es gelingen, die verschiedenen Fäden so aufzufangen und zu verfolgen, dass die Struktur des Gewebes, wie es das Jahr 1800 uns übermachte, deutlich erblickt und überblickt werde. 1) Das kirchliche Christentum, rein als Religion, besteht — wie ich das im siebten Kapitel auseinanderzusetzen bestrebt war — aus unaus- geglichenen Elementen, so dass wir Paulus und Augustinus in die schlimmsten Widersprüche verwickelt fanden. Es handelt sich eben beim Christentum nicht um eine normale religiöse Weltanschauung, sondern um eine künstliche, gewaltsam zusammengeschmiedete. So- bald nun echt philosophische Regungen erwachten — was beim Römer zu keiner Zeit der Fall gewesen war, beim Germanen dagegen nicht ausbleiben konnte — da musste die widerspruchsvolle Natur dieses Glaubens sich mit Gewalt fühlbar machen; und in der That, es ge- währt einen geradezu tragischen Anblick, edle Männer wie Scotus Erigena im 9. und Abälard im 12. Jahrhundert sich hin- und her- winden zu sehen in dem hoffnungslosen Bestreben, den ihnen aufge- drungenen Glaubenskomplex mit sich selbst und ausserdem mit den Forderungen einer ehrlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Da 1) Ich werde nicht aus den Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie abschreiben, schon deswegen nicht, weil es kein einziges giebt, welches meinem Zweck an diesem Orte entspräche. Doch verweise ich hier ein für allemal auf die bekannten, vortrefflichen Handbücher, denen ich im Folgenden vieles verdanke. Hoffentlich wird in nicht allzu ferner Zeit Paul Deussen’s Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religion so weit gefördert sein, dass sie die von mir bei der Abfassung dieses Abschnittes so schmerzlich empfundene Lücke wenigstens zum Teil ausfüllt. Schon die blosse Thatsache, dass er die Religion hin- zuzieht, beweisst Deussen’s Befähigung, die neue Aufgabe zu lösen, und seine lange Beschäftigung mit indischem Denken ist eine fernere Bürgschaft. Inzwischen empfehle ich dem weniger bewanderten Leser die kurze Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen, die den ersten Band von Schopenhauer’s Parerga und Paralipomena eröffnet; auf wenigen Seiten bietet sie einen leuchtend klaren Überblick des ger- manischen Denkens auf seinen höchsten Höhen, von Descartes bis Kant und Schopen- hauer. Die beste Einführung in allgemeine Philosophie, die es überhaupt giebt, ist, nach meinem Dafürhalten (und so weit meine beschränkten Litteraturkenntnisse reichen) Friedrich Albert Lange’s: Geschichte des Materialismus. Indem dieser Verfasser sich auf einen besonderen Standpunkt stellt, belebt sich das gesamte Bild des euro- päischen Denkens von Demokrit bis zu Hartmann, und in der gesunden Atmo- sphäre einer eingestandenen, zu Widerspruch reizenden Einseitigkeit atmet man wie erlöst auf aus der erlogenen Unparteilichkeit der in Masken verhüllten Akademiker.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 860. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/339>, abgerufen am 22.11.2024.