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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
das respektlose Volk sagt, aus dem kleinen Finger -- zieht, ein
Scholastiker. Doch in dieser Auffassung hat das Wort keinen histo-
rischen Wert; derartige Scholastiker hat es zu allen Zeiten gegeben
und giebt es noch heute in herrlichster Blüte. Historisch versteht man
nun gewöhnlich unter diesem Namen eine Gruppe von Theologen,
welche während etlicher Jahrhunderte bestrebt waren, die Beziehungen
zwischen dem Denken und der schon fast fertig ausgebildeten und
erstarrten Kirchenlehre festzustellen. Kirchengeschichtlich mag eine
derartige Zusammenstellung ganz brauchbar sein: erst hatten die "Väter"
in einem erbitterten tausendjährigen Kampf die Dogmen festgestellt;
nun lagen sich während 500 Jahre die Doktoren der Theologie -- die
"Scholastiker" -- in den Haaren und stritten darüber, wie diese Kirchen-
lehre mit der umgebenden Welt und namentlich mit der Natur des
Menschen (so weit diese aus Aristoteles zu erschliessen war) könne in
Einklang gesetzt werden, bis zuletzt der unterirdisch laufende Strom
der wahren Menschheit den Sanktpetersfelsen immer bedrohlicher unter-
graben hatte und die Donnerstimme des Martin Luther die Theoretiker
verscheuchte, wodurch hüben und drüben eine dritte Periode, die der
praktischen Bewährung der Prinzipien, eingeführt wurde. Wie gesagt,
kirchengeschichtlich mag sich aus einer derartigen Gliederung ein
brauchbarer Begriff des Scholasticismus ergeben, doch philosophisch
finde ich sie in hohem Grade irreleitend, und für die Geschichte unserer
germanischen Kultur ist sie vollends unbrauchbar. Was soll das z. B.
heissen, wenn uns in allen Lehrbüchern Scotus Erigena als Urheber
der scholastischen Philosophie vorgeführt wird? Erigena! einer der
grössten Mystiker aller Zeiten, der die Bibel Vers für Vers allegorisch
deutet, der unmittelbar an die griechische Gnosis anknüpft1) und,
genau wie Origenes, lehrt: die Hölle seien die Qualen des eigenen
Gewissens, der Himmel dessen Freuden (De divisione naturae, V, 36),
jeder Mensch werde zuletzt erlöst werden, "möge er in diesem Leben
gut oder schlecht gelebt haben" (V, 39), die Ewigkeit sei daraus zu
verstehen, dass "Raum und Zeit eine falsche Meinung sei" (III, 9), u. s. w.
Welches Band knüpft diesen kühnen Germanen2) an Anselm und
Thomas? Und selbst wenn wir einen Abälard ins Auge fassen, der
als Schüler Anselm's und unvergleichlicher Dialektiker den genannten
Doktoren viel näher steht, wer sieht nicht ein, dass, wenn hier der

1) Vergl. S. 640.
2) Vergl. S. 317.

Weltanschauung und Religion.
das respektlose Volk sagt, aus dem kleinen Finger — zieht, ein
Scholastiker. Doch in dieser Auffassung hat das Wort keinen histo-
rischen Wert; derartige Scholastiker hat es zu allen Zeiten gegeben
und giebt es noch heute in herrlichster Blüte. Historisch versteht man
nun gewöhnlich unter diesem Namen eine Gruppe von Theologen,
welche während etlicher Jahrhunderte bestrebt waren, die Beziehungen
zwischen dem Denken und der schon fast fertig ausgebildeten und
erstarrten Kirchenlehre festzustellen. Kirchengeschichtlich mag eine
derartige Zusammenstellung ganz brauchbar sein: erst hatten die »Väter«
in einem erbitterten tausendjährigen Kampf die Dogmen festgestellt;
nun lagen sich während 500 Jahre die Doktoren der Theologie — die
»Scholastiker« — in den Haaren und stritten darüber, wie diese Kirchen-
lehre mit der umgebenden Welt und namentlich mit der Natur des
Menschen (so weit diese aus Aristoteles zu erschliessen war) könne in
Einklang gesetzt werden, bis zuletzt der unterirdisch laufende Strom
der wahren Menschheit den Sanktpetersfelsen immer bedrohlicher unter-
graben hatte und die Donnerstimme des Martin Luther die Theoretiker
verscheuchte, wodurch hüben und drüben eine dritte Periode, die der
praktischen Bewährung der Prinzipien, eingeführt wurde. Wie gesagt,
kirchengeschichtlich mag sich aus einer derartigen Gliederung ein
brauchbarer Begriff des Scholasticismus ergeben, doch philosophisch
finde ich sie in hohem Grade irreleitend, und für die Geschichte unserer
germanischen Kultur ist sie vollends unbrauchbar. Was soll das z. B.
heissen, wenn uns in allen Lehrbüchern Scotus Erigena als Urheber
der scholastischen Philosophie vorgeführt wird? Erigena! einer der
grössten Mystiker aller Zeiten, der die Bibel Vers für Vers allegorisch
deutet, der unmittelbar an die griechische Gnosis anknüpft1) und,
genau wie Origenes, lehrt: die Hölle seien die Qualen des eigenen
Gewissens, der Himmel dessen Freuden (De divisione naturae, V, 36),
jeder Mensch werde zuletzt erlöst werden, »möge er in diesem Leben
gut oder schlecht gelebt haben« (V, 39), die Ewigkeit sei daraus zu
verstehen, dass »Raum und Zeit eine falsche Meinung sei« (III, 9), u. s. w.
Welches Band knüpft diesen kühnen Germanen2) an Anselm und
Thomas? Und selbst wenn wir einen Abälard ins Auge fassen, der
als Schüler Anselm’s und unvergleichlicher Dialektiker den genannten
Doktoren viel näher steht, wer sieht nicht ein, dass, wenn hier der

1) Vergl. S. 640.
2) Vergl. S. 317.
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[865/0344] Weltanschauung und Religion. das respektlose Volk sagt, aus dem kleinen Finger — zieht, ein Scholastiker. Doch in dieser Auffassung hat das Wort keinen histo- rischen Wert; derartige Scholastiker hat es zu allen Zeiten gegeben und giebt es noch heute in herrlichster Blüte. Historisch versteht man nun gewöhnlich unter diesem Namen eine Gruppe von Theologen, welche während etlicher Jahrhunderte bestrebt waren, die Beziehungen zwischen dem Denken und der schon fast fertig ausgebildeten und erstarrten Kirchenlehre festzustellen. Kirchengeschichtlich mag eine derartige Zusammenstellung ganz brauchbar sein: erst hatten die »Väter« in einem erbitterten tausendjährigen Kampf die Dogmen festgestellt; nun lagen sich während 500 Jahre die Doktoren der Theologie — die »Scholastiker« — in den Haaren und stritten darüber, wie diese Kirchen- lehre mit der umgebenden Welt und namentlich mit der Natur des Menschen (so weit diese aus Aristoteles zu erschliessen war) könne in Einklang gesetzt werden, bis zuletzt der unterirdisch laufende Strom der wahren Menschheit den Sanktpetersfelsen immer bedrohlicher unter- graben hatte und die Donnerstimme des Martin Luther die Theoretiker verscheuchte, wodurch hüben und drüben eine dritte Periode, die der praktischen Bewährung der Prinzipien, eingeführt wurde. Wie gesagt, kirchengeschichtlich mag sich aus einer derartigen Gliederung ein brauchbarer Begriff des Scholasticismus ergeben, doch philosophisch finde ich sie in hohem Grade irreleitend, und für die Geschichte unserer germanischen Kultur ist sie vollends unbrauchbar. Was soll das z. B. heissen, wenn uns in allen Lehrbüchern Scotus Erigena als Urheber der scholastischen Philosophie vorgeführt wird? Erigena! einer der grössten Mystiker aller Zeiten, der die Bibel Vers für Vers allegorisch deutet, der unmittelbar an die griechische Gnosis anknüpft 1) und, genau wie Origenes, lehrt: die Hölle seien die Qualen des eigenen Gewissens, der Himmel dessen Freuden (De divisione naturae, V, 36), jeder Mensch werde zuletzt erlöst werden, »möge er in diesem Leben gut oder schlecht gelebt haben« (V, 39), die Ewigkeit sei daraus zu verstehen, dass »Raum und Zeit eine falsche Meinung sei« (III, 9), u. s. w. Welches Band knüpft diesen kühnen Germanen 2) an Anselm und Thomas? Und selbst wenn wir einen Abälard ins Auge fassen, der als Schüler Anselm’s und unvergleichlicher Dialektiker den genannten Doktoren viel näher steht, wer sieht nicht ein, dass, wenn hier der 1) Vergl. S. 640. 2) Vergl. S. 317.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/344>, abgerufen am 21.11.2024.