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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der gute Wille übrig bliebe:
so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das
seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Frucht-
losigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen."1)
Leider muss ich mich hier auf diesen Mittelpunkt der germanischen
Sittenlehre beschränken; alles Übrige ergiebt sich daraus.

Noch eines muss ich jedoch erwähnen, ehe ich von den Mystikern
Abschied nehme: ihren Einfluss auf die Naturforschung. Die inbrünstige
Liebe zur Natur ist bei den meisten Mystikern ein stark ausgeprägter
Charakterzug, daher bemerken wir bei ihnen eine seltene Kraft der
Intuition. Häufig identifizieren sie die Natur mit Gott, manchmal
stellen sie sie ihm als ein Ewiges gegenüber, fast nie verfallen sie
in jenen Erbfehler der christlichen Kirche: Geringschätzung und
Hass gegen sie zu lehren. Allerdings steht noch Erigena so sehr unter
dem Einfluss der Kirchenväter, dass er die Bewunderung der Natur
für eine dem Ehebruch vergleichbare Sünde hält,2) doch wie anders
schon Franz von Assisi! Man lese dessen berühmte Hymne an die
Sonne, die er kurz vor seinem Tode als letzten und vollkommensten
Ausdruck seiner Gefühle aufschrieb und bis zu seinem Verscheiden
Tag und Nacht sang, und zwar zu einer so sonnig-heiteren Weise,
dass kirchlich-fromme Seelen empört waren, sie von einem Sterbebett aus
zu vernehmen.3) Hier ist von der "Mutter" Erde, von den "Brüdern"
Sonne, Wind und Feuer, von den "Schwestern" Mond, Sterne und
Wasser, von den tausendfarbigen Blumen und Früchten, zuletzt von
der lieben "Schwester", der morte corporale die Rede, und das Ganze
schliesst mit Lob, Segen und Dank dem altissimu, bon signore.4) In

1) Grundlegung zur Methaphysik der Sitten, Abschn. 1. Man vergleiche ebenfalls den
Schlussabsatz der Träume eines Geistersehers, und namentlich die schöne Deutung der
Stelle Matthäus XXV, 35--40 als Beweis, dass vor Gott nur diejenigen Handlungen Wert
besitzen, die ohne an die Möglichkeit einer Belohnung zu denken ausgeführt werden
(in Religion innerhalb der Grenzen u. s. w., 4. Stück, I. Teil, Schluss des 1. Abschn.).
2) De div. naturae, Buch 5, Kap. 36.
3) Sabatier l. c., p. 382.
4) Durch dieses Lied bewährt sich Franz als rassenechter Indogermane im
schroffen Gegensatz zu Rom. Wir finden bei den arischen Indern Abschiedslieder
heiliger Männer, die fast Wort für Wort der Hymne des Franz entsprechen, z. B.
das von Herder in seinen Gedanken einiger Brahmanen verdeutschte:
Erde, du meine Mutter, und du mein Vater, der Lufthauch,
Und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, der Strom,
Und mein Bruder, der Himmel, ich sag' euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank u. s. w.

Weltanschauung und Religion.
nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der gute Wille übrig bliebe:
so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das
seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Frucht-
losigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen.«1)
Leider muss ich mich hier auf diesen Mittelpunkt der germanischen
Sittenlehre beschränken; alles Übrige ergiebt sich daraus.

Noch eines muss ich jedoch erwähnen, ehe ich von den Mystikern
Abschied nehme: ihren Einfluss auf die Naturforschung. Die inbrünstige
Liebe zur Natur ist bei den meisten Mystikern ein stark ausgeprägter
Charakterzug, daher bemerken wir bei ihnen eine seltene Kraft der
Intuition. Häufig identifizieren sie die Natur mit Gott, manchmal
stellen sie sie ihm als ein Ewiges gegenüber, fast nie verfallen sie
in jenen Erbfehler der christlichen Kirche: Geringschätzung und
Hass gegen sie zu lehren. Allerdings steht noch Erigena so sehr unter
dem Einfluss der Kirchenväter, dass er die Bewunderung der Natur
für eine dem Ehebruch vergleichbare Sünde hält,2) doch wie anders
schon Franz von Assisi! Man lese dessen berühmte Hymne an die
Sonne, die er kurz vor seinem Tode als letzten und vollkommensten
Ausdruck seiner Gefühle aufschrieb und bis zu seinem Verscheiden
Tag und Nacht sang, und zwar zu einer so sonnig-heiteren Weise,
dass kirchlich-fromme Seelen empört waren, sie von einem Sterbebett aus
zu vernehmen.3) Hier ist von der »Mutter« Erde, von den »Brüdern«
Sonne, Wind und Feuer, von den »Schwestern« Mond, Sterne und
Wasser, von den tausendfarbigen Blumen und Früchten, zuletzt von
der lieben »Schwester«, der morte corporale die Rede, und das Ganze
schliesst mit Lob, Segen und Dank dem altissimu, bon signore.4) In

1) Grundlegung zur Methaphysik der Sitten, Abschn. 1. Man vergleiche ebenfalls den
Schlussabsatz der Träume eines Geistersehers, und namentlich die schöne Deutung der
Stelle Matthäus XXV, 35—40 als Beweis, dass vor Gott nur diejenigen Handlungen Wert
besitzen, die ohne an die Möglichkeit einer Belohnung zu denken ausgeführt werden
(in Religion innerhalb der Grenzen u. s. w., 4. Stück, I. Teil, Schluss des 1. Abschn.).
2) De div. naturae, Buch 5, Kap. 36.
3) Sabatier l. c., p. 382.
4) Durch dieses Lied bewährt sich Franz als rassenechter Indogermane im
schroffen Gegensatz zu Rom. Wir finden bei den arischen Indern Abschiedslieder
heiliger Männer, die fast Wort für Wort der Hymne des Franz entsprechen, z. B.
das von Herder in seinen Gedanken einiger Brahmanen verdeutschte:
Erde, du meine Mutter, und du mein Vater, der Lufthauch,
Und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, der Strom,
Und mein Bruder, der Himmel, ich sag’ euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank u. s. w.
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[887/0366] Weltanschauung und Religion. nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der gute Wille übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Frucht- losigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen.« 1) Leider muss ich mich hier auf diesen Mittelpunkt der germanischen Sittenlehre beschränken; alles Übrige ergiebt sich daraus. Noch eines muss ich jedoch erwähnen, ehe ich von den Mystikern Abschied nehme: ihren Einfluss auf die Naturforschung. Die inbrünstige Liebe zur Natur ist bei den meisten Mystikern ein stark ausgeprägter Charakterzug, daher bemerken wir bei ihnen eine seltene Kraft der Intuition. Häufig identifizieren sie die Natur mit Gott, manchmal stellen sie sie ihm als ein Ewiges gegenüber, fast nie verfallen sie in jenen Erbfehler der christlichen Kirche: Geringschätzung und Hass gegen sie zu lehren. Allerdings steht noch Erigena so sehr unter dem Einfluss der Kirchenväter, dass er die Bewunderung der Natur für eine dem Ehebruch vergleichbare Sünde hält, 2) doch wie anders schon Franz von Assisi! Man lese dessen berühmte Hymne an die Sonne, die er kurz vor seinem Tode als letzten und vollkommensten Ausdruck seiner Gefühle aufschrieb und bis zu seinem Verscheiden Tag und Nacht sang, und zwar zu einer so sonnig-heiteren Weise, dass kirchlich-fromme Seelen empört waren, sie von einem Sterbebett aus zu vernehmen. 3) Hier ist von der »Mutter« Erde, von den »Brüdern« Sonne, Wind und Feuer, von den »Schwestern« Mond, Sterne und Wasser, von den tausendfarbigen Blumen und Früchten, zuletzt von der lieben »Schwester«, der morte corporale die Rede, und das Ganze schliesst mit Lob, Segen und Dank dem altissimu, bon signore. 4) In 1) Grundlegung zur Methaphysik der Sitten, Abschn. 1. Man vergleiche ebenfalls den Schlussabsatz der Träume eines Geistersehers, und namentlich die schöne Deutung der Stelle Matthäus XXV, 35—40 als Beweis, dass vor Gott nur diejenigen Handlungen Wert besitzen, die ohne an die Möglichkeit einer Belohnung zu denken ausgeführt werden (in Religion innerhalb der Grenzen u. s. w., 4. Stück, I. Teil, Schluss des 1. Abschn.). 2) De div. naturae, Buch 5, Kap. 36. 3) Sabatier l. c., p. 382. 4) Durch dieses Lied bewährt sich Franz als rassenechter Indogermane im schroffen Gegensatz zu Rom. Wir finden bei den arischen Indern Abschiedslieder heiliger Männer, die fast Wort für Wort der Hymne des Franz entsprechen, z. B. das von Herder in seinen Gedanken einiger Brahmanen verdeutschte: Erde, du meine Mutter, und du mein Vater, der Lufthauch, Und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, der Strom, Und mein Bruder, der Himmel, ich sag’ euch allen mit Ehrfurcht Freundlichen Dank u. s. w.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 887. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/366>, abgerufen am 22.11.2024.