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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Vorstellungen des tief entarteten "Heidentums" mit hinein und bildeten
fortan -- wenigstens für die grosse Mehrzahl der Christen -- einen
integrierenden Bestandteil des Dogmas.

Dieser Augenblick bedeutet den Wendepunkt für die
Ausbildung der christlichen Religion.

Verzweifelt kämpften edle Christen, namentlich die griechischen
Väter, gegen die Verunstaltung ihres reinen einfachen Glaubens, ein
Kampf, der nicht seinen wichtigsten, doch seinen heftigsten und be-
kanntesten Ausdruck in dem langen Streit um die Bilderverehrung
fand. Schon hier ergriff Rom, durch Rasse, Bildung und Tradition
dazu veranlasst, die Partei des Völkerchaos. Am Ende des 4. Jahr-
hunderts erhebt der grosse Vigilantius, ein Gothe, seine Stimme gegen
das pseudo-mythologische Pantheon der Schutzengel und Märtyrer,
gegen den Reliquienunfug, gegen das aus dem ägyptischen Serapiskult
in das Christentum importierte Mönchswesen;1) doch der in Rom
gebildete Hieronymus kämpft ihn nieder und bereichert die Welt und
den Kalender durch neue Heilige aus seiner eigenen Phantasie. Die
"fromme Lüge" war schon am Werke.2)

Soviel nur zur Veranschaulichung der Entstellungen, welche dieInnere
Mythologie.

äussere Mythengestaltung aus indoeuropäischem Erbe sich hat vom
Völkerchaos gefallen lassen müssen. Wenden wir jetzt das Auge auf jene
mehr innerliche Mythenbildung, so werden wir hier das indoeuropäische
Stammgut in reinerer Gestalt antreffen.

Den Kern der christlichen Religion, den Brennpunkt, auf den
alle Strahlen hinstreben, bildet der Gedanke an eine Erlösung des
Menschen: dieser Gedanke ist den Juden von jeher und bis auf den
heutigen Tag vollkommen fremd; ihrer gesamten Religionsauffassung
gegenüber ist er einfach widersinnig;3) denn es handelt sich nicht um
eine sichtbare, historische Thatsache, sondern um ein unaussprechliches,
inneres Erlebnis. Dagegen bildet dieser Gedanke den Mittelpunkt
aller indoeranischen Religionsanschauungen; sie alle drehen sich um
die Sehnsucht nach Erlösung, um die Hoffnung auf Erlösung; auch

1) Pachomius, der Begründer des eigentlichen Mönchtums, war wie sein Vor-
gänger, der Einsiedler Antonius, Ägypter und zwar Oberägypter, und als "national-
ägyptischer Serapisdiener" hat er die Praktiken gelernt, die er später fast unverändert
ins Christentum übertrug (vergl. Zöckler: Askese und Mönchtum, 2. Aufl.; S. 193 fg.).
2) Vergl. S. 308. Über die "Rezeption des Heidentums" siehe auch Müller,
a. a. O., S. 204 fg.
3) Vergl. S. 393 und auch die auf S. 330 citierte Stelle von Prof. Graetz.

Religion.
Vorstellungen des tief entarteten »Heidentums« mit hinein und bildeten
fortan — wenigstens für die grosse Mehrzahl der Christen — einen
integrierenden Bestandteil des Dogmas.

Dieser Augenblick bedeutet den Wendepunkt für die
Ausbildung der christlichen Religion.

Verzweifelt kämpften edle Christen, namentlich die griechischen
Väter, gegen die Verunstaltung ihres reinen einfachen Glaubens, ein
Kampf, der nicht seinen wichtigsten, doch seinen heftigsten und be-
kanntesten Ausdruck in dem langen Streit um die Bilderverehrung
fand. Schon hier ergriff Rom, durch Rasse, Bildung und Tradition
dazu veranlasst, die Partei des Völkerchaos. Am Ende des 4. Jahr-
hunderts erhebt der grosse Vigilantius, ein Gothe, seine Stimme gegen
das pseudo-mythologische Pantheon der Schutzengel und Märtyrer,
gegen den Reliquienunfug, gegen das aus dem ägyptischen Serapiskult
in das Christentum importierte Mönchswesen;1) doch der in Rom
gebildete Hieronymus kämpft ihn nieder und bereichert die Welt und
den Kalender durch neue Heilige aus seiner eigenen Phantasie. Die
»fromme Lüge« war schon am Werke.2)

Soviel nur zur Veranschaulichung der Entstellungen, welche dieInnere
Mythologie.

äussere Mythengestaltung aus indoeuropäischem Erbe sich hat vom
Völkerchaos gefallen lassen müssen. Wenden wir jetzt das Auge auf jene
mehr innerliche Mythenbildung, so werden wir hier das indoeuropäische
Stammgut in reinerer Gestalt antreffen.

Den Kern der christlichen Religion, den Brennpunkt, auf den
alle Strahlen hinstreben, bildet der Gedanke an eine Erlösung des
Menschen: dieser Gedanke ist den Juden von jeher und bis auf den
heutigen Tag vollkommen fremd; ihrer gesamten Religionsauffassung
gegenüber ist er einfach widersinnig;3) denn es handelt sich nicht um
eine sichtbare, historische Thatsache, sondern um ein unaussprechliches,
inneres Erlebnis. Dagegen bildet dieser Gedanke den Mittelpunkt
aller indoeranischen Religionsanschauungen; sie alle drehen sich um
die Sehnsucht nach Erlösung, um die Hoffnung auf Erlösung; auch

1) Pachomius, der Begründer des eigentlichen Mönchtums, war wie sein Vor-
gänger, der Einsiedler Antonius, Ägypter und zwar Oberägypter, und als »national-
ägyptischer Serapisdiener« hat er die Praktiken gelernt, die er später fast unverändert
ins Christentum übertrug (vergl. Zöckler: Askese und Mönchtum, 2. Aufl.; S. 193 fg.).
2) Vergl. S. 308. Über die »Rezeption des Heidentums« siehe auch Müller,
a. a. O., S. 204 fg.
3) Vergl. S. 393 und auch die auf S. 330 citierte Stelle von Prof. Graetz.
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[559/0038] Religion. Vorstellungen des tief entarteten »Heidentums« mit hinein und bildeten fortan — wenigstens für die grosse Mehrzahl der Christen — einen integrierenden Bestandteil des Dogmas. Dieser Augenblick bedeutet den Wendepunkt für die Ausbildung der christlichen Religion. Verzweifelt kämpften edle Christen, namentlich die griechischen Väter, gegen die Verunstaltung ihres reinen einfachen Glaubens, ein Kampf, der nicht seinen wichtigsten, doch seinen heftigsten und be- kanntesten Ausdruck in dem langen Streit um die Bilderverehrung fand. Schon hier ergriff Rom, durch Rasse, Bildung und Tradition dazu veranlasst, die Partei des Völkerchaos. Am Ende des 4. Jahr- hunderts erhebt der grosse Vigilantius, ein Gothe, seine Stimme gegen das pseudo-mythologische Pantheon der Schutzengel und Märtyrer, gegen den Reliquienunfug, gegen das aus dem ägyptischen Serapiskult in das Christentum importierte Mönchswesen; 1) doch der in Rom gebildete Hieronymus kämpft ihn nieder und bereichert die Welt und den Kalender durch neue Heilige aus seiner eigenen Phantasie. Die »fromme Lüge« war schon am Werke. 2) Soviel nur zur Veranschaulichung der Entstellungen, welche die äussere Mythengestaltung aus indoeuropäischem Erbe sich hat vom Völkerchaos gefallen lassen müssen. Wenden wir jetzt das Auge auf jene mehr innerliche Mythenbildung, so werden wir hier das indoeuropäische Stammgut in reinerer Gestalt antreffen. Innere Mythologie. Den Kern der christlichen Religion, den Brennpunkt, auf den alle Strahlen hinstreben, bildet der Gedanke an eine Erlösung des Menschen: dieser Gedanke ist den Juden von jeher und bis auf den heutigen Tag vollkommen fremd; ihrer gesamten Religionsauffassung gegenüber ist er einfach widersinnig; 3) denn es handelt sich nicht um eine sichtbare, historische Thatsache, sondern um ein unaussprechliches, inneres Erlebnis. Dagegen bildet dieser Gedanke den Mittelpunkt aller indoeranischen Religionsanschauungen; sie alle drehen sich um die Sehnsucht nach Erlösung, um die Hoffnung auf Erlösung; auch 1) Pachomius, der Begründer des eigentlichen Mönchtums, war wie sein Vor- gänger, der Einsiedler Antonius, Ägypter und zwar Oberägypter, und als »national- ägyptischer Serapisdiener« hat er die Praktiken gelernt, die er später fast unverändert ins Christentum übertrug (vergl. Zöckler: Askese und Mönchtum, 2. Aufl.; S. 193 fg.). 2) Vergl. S. 308. Über die »Rezeption des Heidentums« siehe auch Müller, a. a. O., S. 204 fg. 3) Vergl. S. 393 und auch die auf S. 330 citierte Stelle von Prof. Graetz.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/38>, abgerufen am 09.11.2024.