Das alles bildet aber nur die eine Seite dieser Betrachtung. Un- zweifelhaft dient unsere Erforschung der Natur zunächst nur einer extensiven Erweiterung unseres Wissens: wir sehen immer mehr und immer genauer, doch nimmt dadurch unser Wissen intensiv nicht zu, d. h. wir sind wohl wissender, aber nicht weiser als zuvor, und wir sind nicht um eine Handbreite weiter in das Innere des Welträtsels eingedrungen. Doch soll der wahre Gewinn unserer Naturforschung jetzt erst genannt werden: er ist ein innerer, denn er führt uns wirklich ins Innere ein und lehrt uns das Welträtsel zwar nicht lösen, doch erfassen, und das ist viel, denn das gerade macht uns, wenn nicht wissender, so doch weiser. Die Physik ist die grosse, unmittelbare Lehrerin der Metaphysik; erst durch die Betrachtung der Natur lernt der Mensch sich selber erkennen. Doch um das mit voller Über- zeugung einzusehen, müssen wir das schon Angedeutete mit kräfti- geren Zügen noch einmal nachzeichnen.
Ich rufe dazu De Candolle's Ausspruch ins Gedächtnis zurück: erst durch exaktes Wissen wird die Grenze zwischen Bekanntem und Un- bekanntem wahrgenommen. Mit anderen Worten: erst aus exaktem Wissen ergiebt sich exaktes Nichtwissen. Ich meine, das hat sich im Obigen in überraschender Weise bewahrheitet. Erst die Richtung auf exakte Forschung hat den Denkern die Unerforschlichkeit der Natur ge- offenbart, eine Unerforschlichkeit, die früher kein Mensch geahnt hatte. Es schien alles so einfach, man brauchte bloss zuzugreifen. Man könnte, glaube ich, leicht Zeugnisse dafür anführen, dass die Menschen vor der Ära der grossen Entdeckungen sich förmlich schämten, zu beobachten und Versuche anzustellen: es kam ihnen kindisch vor. Wie wenig irgend ein Mysterium geahnt wurde, ersieht man aus solchen ersten natur- wissenschaftlichen Versuchen wie die des Albertus Magnus und des Roger Bacon: kaum erblicken diese Männer ein Phänomen und gleich ist die Erklärung da. Zweihundert Jahre später experimentiert und be- obachtet zwar Paracelsus mit Eifer, denn er hat schon das Fieber, neue Thatsachen zu sammeln und empfindet lebhaft unsere grenzenlose Ignoranz in Bezug auf diese; um Gründe und Erklärungen aber ist er ebenfalls nie einen Augenblick verlegen. Doch je näher wir der Natur rückten, desto ferner schwand sie zurück, und als unsere besten Philo- sophen sie ganz ergründen wollten, stellte es sich heraus, dass sie unergründlich ist. Das war der Gang von Descartes bis Kant. Schon Descartes, der tiefsinnige Mechaniker, sah sich veranlasst, der Frage, "giebt es in Wirklichkeit materielle Dinge?" eine ganze Schrift zu
Weltanschauung und Religion.
Das alles bildet aber nur die eine Seite dieser Betrachtung. Un- zweifelhaft dient unsere Erforschung der Natur zunächst nur einer extensiven Erweiterung unseres Wissens: wir sehen immer mehr und immer genauer, doch nimmt dadurch unser Wissen intensiv nicht zu, d. h. wir sind wohl wissender, aber nicht weiser als zuvor, und wir sind nicht um eine Handbreite weiter in das Innere des Welträtsels eingedrungen. Doch soll der wahre Gewinn unserer Naturforschung jetzt erst genannt werden: er ist ein innerer, denn er führt uns wirklich ins Innere ein und lehrt uns das Welträtsel zwar nicht lösen, doch erfassen, und das ist viel, denn das gerade macht uns, wenn nicht wissender, so doch weiser. Die Physik ist die grosse, unmittelbare Lehrerin der Metaphysik; erst durch die Betrachtung der Natur lernt der Mensch sich selber erkennen. Doch um das mit voller Über- zeugung einzusehen, müssen wir das schon Angedeutete mit kräfti- geren Zügen noch einmal nachzeichnen.
Ich rufe dazu De Candolle’s Ausspruch ins Gedächtnis zurück: erst durch exaktes Wissen wird die Grenze zwischen Bekanntem und Un- bekanntem wahrgenommen. Mit anderen Worten: erst aus exaktem Wissen ergiebt sich exaktes Nichtwissen. Ich meine, das hat sich im Obigen in überraschender Weise bewahrheitet. Erst die Richtung auf exakte Forschung hat den Denkern die Unerforschlichkeit der Natur ge- offenbart, eine Unerforschlichkeit, die früher kein Mensch geahnt hatte. Es schien alles so einfach, man brauchte bloss zuzugreifen. Man könnte, glaube ich, leicht Zeugnisse dafür anführen, dass die Menschen vor der Ära der grossen Entdeckungen sich förmlich schämten, zu beobachten und Versuche anzustellen: es kam ihnen kindisch vor. Wie wenig irgend ein Mysterium geahnt wurde, ersieht man aus solchen ersten natur- wissenschaftlichen Versuchen wie die des Albertus Magnus und des Roger Bacon: kaum erblicken diese Männer ein Phänomen und gleich ist die Erklärung da. Zweihundert Jahre später experimentiert und be- obachtet zwar Paracelsus mit Eifer, denn er hat schon das Fieber, neue Thatsachen zu sammeln und empfindet lebhaft unsere grenzenlose Ignoranz in Bezug auf diese; um Gründe und Erklärungen aber ist er ebenfalls nie einen Augenblick verlegen. Doch je näher wir der Natur rückten, desto ferner schwand sie zurück, und als unsere besten Philo- sophen sie ganz ergründen wollten, stellte es sich heraus, dass sie unergründlich ist. Das war der Gang von Descartes bis Kant. Schon Descartes, der tiefsinnige Mechaniker, sah sich veranlasst, der Frage, »giebt es in Wirklichkeit materielle Dinge?« eine ganze Schrift zu
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Weltanschauung und Religion.
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immer genauer, doch nimmt dadurch unser Wissen intensiv nicht zu,
d. h. wir sind wohl wissender, aber nicht weiser als zuvor, und wir
sind nicht um eine Handbreite weiter in das Innere des Welträtsels
eingedrungen. Doch soll der wahre Gewinn unserer Naturforschung
jetzt erst genannt werden: er ist ein innerer, denn er führt uns wirklich
ins Innere ein und lehrt uns das Welträtsel zwar nicht lösen, doch
erfassen, und das ist viel, denn das gerade macht uns, wenn nicht
wissender, so doch weiser. Die Physik ist die grosse, unmittelbare
Lehrerin der Metaphysik; erst durch die Betrachtung der Natur lernt
der Mensch sich selber erkennen. Doch um das mit voller Über-
zeugung einzusehen, müssen wir das schon Angedeutete mit kräfti-
geren Zügen noch einmal nachzeichnen.
Ich rufe dazu De Candolle’s Ausspruch ins Gedächtnis zurück: erst
durch exaktes Wissen wird die Grenze zwischen Bekanntem und Un-
bekanntem wahrgenommen. Mit anderen Worten: erst aus exaktem
Wissen ergiebt sich exaktes Nichtwissen. Ich meine, das hat sich im
Obigen in überraschender Weise bewahrheitet. Erst die Richtung auf
exakte Forschung hat den Denkern die Unerforschlichkeit der Natur ge-
offenbart, eine Unerforschlichkeit, die früher kein Mensch geahnt hatte.
Es schien alles so einfach, man brauchte bloss zuzugreifen. Man könnte,
glaube ich, leicht Zeugnisse dafür anführen, dass die Menschen vor der
Ära der grossen Entdeckungen sich förmlich schämten, zu beobachten
und Versuche anzustellen: es kam ihnen kindisch vor. Wie wenig irgend
ein Mysterium geahnt wurde, ersieht man aus solchen ersten natur-
wissenschaftlichen Versuchen wie die des Albertus Magnus und des
Roger Bacon: kaum erblicken diese Männer ein Phänomen und gleich
ist die Erklärung da. Zweihundert Jahre später experimentiert und be-
obachtet zwar Paracelsus mit Eifer, denn er hat schon das Fieber, neue
Thatsachen zu sammeln und empfindet lebhaft unsere grenzenlose
Ignoranz in Bezug auf diese; um Gründe und Erklärungen aber ist er
ebenfalls nie einen Augenblick verlegen. Doch je näher wir der Natur
rückten, desto ferner schwand sie zurück, und als unsere besten Philo-
sophen sie ganz ergründen wollten, stellte es sich heraus, dass sie
unergründlich ist. Das war der Gang von Descartes bis Kant. Schon
Descartes, der tiefsinnige Mechaniker, sah sich veranlasst, der Frage,
»giebt es in Wirklichkeit materielle Dinge?« eine ganze Schrift zu
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 911. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/390>, abgerufen am 21.11.2024.
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