Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Entstehung einer neuen Welt.

Jetzt muss ich aber noch einen letzten Augenblick die Aufmerk-
samkeit des Lesers beanspruchen. So gut es ohne grössere meta-
physische Vertiefung gehen will, muss ich nämlich versuchen, jenes
unserer spezifisch germanischen Weltanschauung zu Grunde liegende
metaphysische Problem zu erläutern, so weit wenigstens, dass jeder
Leser begreifen kann, wie berechtigt meine Behauptung war, die Er-
forschung der Natur lehre den Menschen sich selbst erkennen, sie führe
ihn ins Innere ein. Hier erst wird die Verbindung mit Religion sicht-
bar werden, die in der That alle die Philosophen, die ich jetzt genannt
habe, eingehend und leidenschaftlich beschäftigt hat. Selbst Hume,
der Skeptiker, ist tief innerlich religiös. Die Wut, mit welcher er
über die historischen Religionen als über "Phantastereien halbmensch-
licher Affen" herfällt,1) zeigt wie ernst es ihm um die Sache ist; und
solche Ausführungen wie das Kapitel Of the immateriality of the
soul,
2) lassen uns in Hume auch auf diesem Felde, wie auf dem rein
philosophischen, den echten Vorläufer Kant's erkennen.

Wer nicht zu Aussernatürlichem seine Zuflucht nimmt, wird auf die
Frage "wie ist Erfahrung möglich?" nicht anders als mit einer Kritik
des gesamten Inhalts seines Bewusstseins antworten können. Kritik
kommt von krinein, einem Wort, welches ursprünglich "scheiden",
"unterscheiden" heisst. Unterscheide ich aber richtig, so werde ich
auch zusammenbringen, was zusammengehört, d. h. ich werde auch
richtig verbinden. Wahre Kritik besteht also ebenso sehr im Ver-
binden wie im Unterscheiden, sie ist ebenso sehr Synthese wie Analyse.
Die Besinnung über das oben genau bezeichnete Doppeldilemma zeigte
nun bald, dass Descartes nicht richtig geschieden und Locke nicht
richtig verbunden hatte. Denn Descartes hatte aus formellen Gründen
Körper und Seele geschieden und wusste nun nicht weiter, da er sie
in sich selber untrennbar verbunden fand; Locke dagegen war wie
ein zweiter Curtius mit seinem ganzen Verstand in die gähnende Kluft
hinabgesprungen, doch ist Wissenschaft kein Märchen und die Kluft
gähnte nach wie vor. Ein erster grosser Fehler ist leicht zu ent-
decken. Diese frühen Naturforscher der Philosophie waren noch nicht
kühn genug; sie scheuten sich, die gesamte Natur unbefangen in den
Kreis ihrer Forschungen einzubeziehen; etwas blieb immer draussen,
etwas, was sie Gott und Seele und Religion und Metaphysik nennen.

1) Dialogues concerning natural religion.
2) A treatise of human nature, book I, part 4, section 5.
Die Entstehung einer neuen Welt.

Jetzt muss ich aber noch einen letzten Augenblick die Aufmerk-
samkeit des Lesers beanspruchen. So gut es ohne grössere meta-
physische Vertiefung gehen will, muss ich nämlich versuchen, jenes
unserer spezifisch germanischen Weltanschauung zu Grunde liegende
metaphysische Problem zu erläutern, so weit wenigstens, dass jeder
Leser begreifen kann, wie berechtigt meine Behauptung war, die Er-
forschung der Natur lehre den Menschen sich selbst erkennen, sie führe
ihn ins Innere ein. Hier erst wird die Verbindung mit Religion sicht-
bar werden, die in der That alle die Philosophen, die ich jetzt genannt
habe, eingehend und leidenschaftlich beschäftigt hat. Selbst Hume,
der Skeptiker, ist tief innerlich religiös. Die Wut, mit welcher er
über die historischen Religionen als über »Phantastereien halbmensch-
licher Affen« herfällt,1) zeigt wie ernst es ihm um die Sache ist; und
solche Ausführungen wie das Kapitel Of the immateriality of the
soul,
2) lassen uns in Hume auch auf diesem Felde, wie auf dem rein
philosophischen, den echten Vorläufer Kant’s erkennen.

Wer nicht zu Aussernatürlichem seine Zuflucht nimmt, wird auf die
Frage »wie ist Erfahrung möglich?« nicht anders als mit einer Kritik
des gesamten Inhalts seines Bewusstseins antworten können. Kritik
kommt von krinein, einem Wort, welches ursprünglich »scheiden«,
»unterscheiden« heisst. Unterscheide ich aber richtig, so werde ich
auch zusammenbringen, was zusammengehört, d. h. ich werde auch
richtig verbinden. Wahre Kritik besteht also ebenso sehr im Ver-
binden wie im Unterscheiden, sie ist ebenso sehr Synthese wie Analyse.
Die Besinnung über das oben genau bezeichnete Doppeldilemma zeigte
nun bald, dass Descartes nicht richtig geschieden und Locke nicht
richtig verbunden hatte. Denn Descartes hatte aus formellen Gründen
Körper und Seele geschieden und wusste nun nicht weiter, da er sie
in sich selber untrennbar verbunden fand; Locke dagegen war wie
ein zweiter Curtius mit seinem ganzen Verstand in die gähnende Kluft
hinabgesprungen, doch ist Wissenschaft kein Märchen und die Kluft
gähnte nach wie vor. Ein erster grosser Fehler ist leicht zu ent-
decken. Diese frühen Naturforscher der Philosophie waren noch nicht
kühn genug; sie scheuten sich, die gesamte Natur unbefangen in den
Kreis ihrer Forschungen einzubeziehen; etwas blieb immer draussen,
etwas, was sie Gott und Seele und Religion und Metaphysik nennen.

1) Dialogues concerning natural religion.
2) A treatise of human nature, book I, part 4, section 5.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0399" n="920"/>
              <fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
              <p>Jetzt muss ich aber noch einen letzten Augenblick die Aufmerk-<lb/>
samkeit des Lesers beanspruchen. So gut es ohne grössere meta-<lb/>
physische Vertiefung gehen will, muss ich nämlich versuchen, jenes<lb/>
unserer spezifisch germanischen Weltanschauung zu Grunde liegende<lb/>
metaphysische Problem zu erläutern, so weit wenigstens, dass jeder<lb/>
Leser begreifen kann, wie berechtigt meine Behauptung war, die Er-<lb/>
forschung der Natur lehre den Menschen sich selbst erkennen, sie führe<lb/>
ihn ins Innere ein. Hier erst wird die Verbindung mit Religion sicht-<lb/>
bar werden, die in der That alle die Philosophen, die ich jetzt genannt<lb/>
habe, eingehend und leidenschaftlich beschäftigt hat. Selbst Hume,<lb/>
der Skeptiker, ist tief innerlich religiös. Die Wut, mit welcher er<lb/>
über die historischen Religionen als über »Phantastereien halbmensch-<lb/>
licher Affen« herfällt,<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Dialogues concerning natural religion.</hi></note> zeigt wie ernst es ihm um die Sache ist; und<lb/>
solche Ausführungen wie das Kapitel <hi rendition="#i">Of the immateriality of the<lb/>
soul,</hi><note place="foot" n="2)"><hi rendition="#i">A treatise of human nature,</hi> book I, part 4, section 5.</note> lassen uns in Hume auch auf diesem Felde, wie auf dem rein<lb/>
philosophischen, den echten Vorläufer Kant&#x2019;s erkennen.</p><lb/>
              <p>Wer nicht zu Aussernatürlichem seine Zuflucht nimmt, wird auf die<lb/>
Frage »wie ist Erfahrung möglich?« nicht anders als mit einer Kritik<lb/>
des gesamten Inhalts seines Bewusstseins antworten können. Kritik<lb/>
kommt von <hi rendition="#i">krinein,</hi> einem Wort, welches ursprünglich »scheiden«,<lb/>
»unterscheiden« heisst. Unterscheide ich aber richtig, so werde ich<lb/>
auch zusammenbringen, was zusammengehört, d. h. ich werde auch<lb/>
richtig verbinden. Wahre Kritik besteht also ebenso sehr im Ver-<lb/>
binden wie im Unterscheiden, sie ist ebenso sehr Synthese wie Analyse.<lb/>
Die Besinnung über das oben genau bezeichnete Doppeldilemma zeigte<lb/>
nun bald, dass Descartes nicht richtig geschieden und Locke nicht<lb/>
richtig verbunden hatte. Denn Descartes hatte aus formellen Gründen<lb/>
Körper und Seele geschieden und wusste nun nicht weiter, da er sie<lb/>
in sich selber untrennbar verbunden fand; Locke dagegen war wie<lb/>
ein zweiter Curtius mit seinem ganzen Verstand in die gähnende Kluft<lb/>
hinabgesprungen, doch ist Wissenschaft kein Märchen und die Kluft<lb/>
gähnte nach wie vor. Ein erster grosser Fehler ist leicht zu ent-<lb/>
decken. Diese frühen Naturforscher der Philosophie waren noch nicht<lb/>
kühn genug; sie scheuten sich, die gesamte Natur unbefangen in den<lb/>
Kreis ihrer Forschungen einzubeziehen; etwas blieb immer draussen,<lb/>
etwas, was sie Gott und Seele und Religion und Metaphysik nennen.<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[920/0399] Die Entstehung einer neuen Welt. Jetzt muss ich aber noch einen letzten Augenblick die Aufmerk- samkeit des Lesers beanspruchen. So gut es ohne grössere meta- physische Vertiefung gehen will, muss ich nämlich versuchen, jenes unserer spezifisch germanischen Weltanschauung zu Grunde liegende metaphysische Problem zu erläutern, so weit wenigstens, dass jeder Leser begreifen kann, wie berechtigt meine Behauptung war, die Er- forschung der Natur lehre den Menschen sich selbst erkennen, sie führe ihn ins Innere ein. Hier erst wird die Verbindung mit Religion sicht- bar werden, die in der That alle die Philosophen, die ich jetzt genannt habe, eingehend und leidenschaftlich beschäftigt hat. Selbst Hume, der Skeptiker, ist tief innerlich religiös. Die Wut, mit welcher er über die historischen Religionen als über »Phantastereien halbmensch- licher Affen« herfällt, 1) zeigt wie ernst es ihm um die Sache ist; und solche Ausführungen wie das Kapitel Of the immateriality of the soul, 2) lassen uns in Hume auch auf diesem Felde, wie auf dem rein philosophischen, den echten Vorläufer Kant’s erkennen. Wer nicht zu Aussernatürlichem seine Zuflucht nimmt, wird auf die Frage »wie ist Erfahrung möglich?« nicht anders als mit einer Kritik des gesamten Inhalts seines Bewusstseins antworten können. Kritik kommt von krinein, einem Wort, welches ursprünglich »scheiden«, »unterscheiden« heisst. Unterscheide ich aber richtig, so werde ich auch zusammenbringen, was zusammengehört, d. h. ich werde auch richtig verbinden. Wahre Kritik besteht also ebenso sehr im Ver- binden wie im Unterscheiden, sie ist ebenso sehr Synthese wie Analyse. Die Besinnung über das oben genau bezeichnete Doppeldilemma zeigte nun bald, dass Descartes nicht richtig geschieden und Locke nicht richtig verbunden hatte. Denn Descartes hatte aus formellen Gründen Körper und Seele geschieden und wusste nun nicht weiter, da er sie in sich selber untrennbar verbunden fand; Locke dagegen war wie ein zweiter Curtius mit seinem ganzen Verstand in die gähnende Kluft hinabgesprungen, doch ist Wissenschaft kein Märchen und die Kluft gähnte nach wie vor. Ein erster grosser Fehler ist leicht zu ent- decken. Diese frühen Naturforscher der Philosophie waren noch nicht kühn genug; sie scheuten sich, die gesamte Natur unbefangen in den Kreis ihrer Forschungen einzubeziehen; etwas blieb immer draussen, etwas, was sie Gott und Seele und Religion und Metaphysik nennen. 1) Dialogues concerning natural religion. 2) A treatise of human nature, book I, part 4, section 5.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/399
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 920. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/399>, abgerufen am 21.11.2024.