des letzten Jahrhunderts. Für Diderot verweise ich auf S. 329, Rousseau's Ansichten sind bekannt, Voltaire, der angebliche Skeptiker, schreibt:
Et pour nous elever, descendons dans nous-memes!
Auf Wilhelm Meister's Wanderjahre verwies ich vorhin; Schiller schreibt 1795 an Goethe: "Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Er- scheinungen derselben im Leben scheinen mir bloss deswegen so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind". Gestehen wir es nur aufrichtig: zwischen dem Christentum, wie es uns das Völkerchaos aufzwang, und dem innersten Seelenglauben des Germanen hat es nie wirkliche Übereinstimmung gegeben, niemals. Goethe durfte aus voller Brust singen:
Den deutschen Mannen gereicht's zum Ruhm, Dass sie gehasst das Christentum!
Und heute kommt ein erfahrener Pfarrer und versichert uns -- was wir längst schon ahnten -- der deutsche Bauer sei überhaupt niemals zum Christentume bekehrt worden.1) Ein für uns annehmbares Christen- tum ist jetzt erst möglich geworden; nicht etwa, weil es dazu einer Philosophie bedurft hätte, es bedurfte aber der Hinwegräumung falscher Lehren und der Begründung einer grossen allumfassenden wahren Welt- anschauung, von welcher Jeder so viel aufnehmen wird, wie er kann, und innerhalb welcher für den Geringsten wie für den Tüchtigsten das Beispiel und die Worte Christi zugänglich sein werden.
Hiermit betrachte ich den Notbrückenbau für den Abschnitt Weltanschauung (einschliesslich Religion) als beendet. Er ist verhältnis- mässig ausführlich geworden, weil hier nur grösste Klarheit dienen und die Aufmerksamkeit wach halten konnte. Trotz der Länge ist das ganze nur eine flüchtige Skizze, bei welcher, wie man gesehen hat, einerseits Wissenschaft, andrerseits Religion alles Interesse be- ansprucht hat; diese zwei zusammen bilden eine lebendige Welt- anschauung, und ohne eine solche besitzen wir keine Kultur; wogegen reine Philosophie, als eine Disciplin und Gymnastik der Vernunft, ledig- lich ein Werkzeug ist und hier keinen Platz finden konnte.
Was die starke Hervorhebung Immanuel Kant's am Schlusse an- betrifft, so hat mich hierzu vor allem die Rücksicht auf möglichste Vereinfachung und Klarheit bestimmt. Ich glaube, überzeugt zu haben,
1) Paul Gerade: Meine Beobachtungen und Erlebnisse als Dorfpastor, 1895.
Die Entstehung einer neuen Welt.
des letzten Jahrhunderts. Für Diderot verweise ich auf S. 329, Rousseau’s Ansichten sind bekannt, Voltaire, der angebliche Skeptiker, schreibt:
Et pour nous élever, descendons dans nous-mêmes!
Auf Wilhelm Meister’s Wanderjahre verwies ich vorhin; Schiller schreibt 1795 an Goethe: »Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Er- scheinungen derselben im Leben scheinen mir bloss deswegen so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten sind«. Gestehen wir es nur aufrichtig: zwischen dem Christentum, wie es uns das Völkerchaos aufzwang, und dem innersten Seelenglauben des Germanen hat es nie wirkliche Übereinstimmung gegeben, niemals. Goethe durfte aus voller Brust singen:
Den deutschen Mannen gereicht’s zum Ruhm, Dass sie gehasst das Christentum!
Und heute kommt ein erfahrener Pfarrer und versichert uns — was wir längst schon ahnten — der deutsche Bauer sei überhaupt niemals zum Christentume bekehrt worden.1) Ein für uns annehmbares Christen- tum ist jetzt erst möglich geworden; nicht etwa, weil es dazu einer Philosophie bedurft hätte, es bedurfte aber der Hinwegräumung falscher Lehren und der Begründung einer grossen allumfassenden wahren Welt- anschauung, von welcher Jeder so viel aufnehmen wird, wie er kann, und innerhalb welcher für den Geringsten wie für den Tüchtigsten das Beispiel und die Worte Christi zugänglich sein werden.
Hiermit betrachte ich den Notbrückenbau für den Abschnitt Weltanschauung (einschliesslich Religion) als beendet. Er ist verhältnis- mässig ausführlich geworden, weil hier nur grösste Klarheit dienen und die Aufmerksamkeit wach halten konnte. Trotz der Länge ist das ganze nur eine flüchtige Skizze, bei welcher, wie man gesehen hat, einerseits Wissenschaft, andrerseits Religion alles Interesse be- ansprucht hat; diese zwei zusammen bilden eine lebendige Welt- anschauung, und ohne eine solche besitzen wir keine Kultur; wogegen reine Philosophie, als eine Disciplin und Gymnastik der Vernunft, ledig- lich ein Werkzeug ist und hier keinen Platz finden konnte.
Was die starke Hervorhebung Immanuel Kant’s am Schlusse an- betrifft, so hat mich hierzu vor allem die Rücksicht auf möglichste Vereinfachung und Klarheit bestimmt. Ich glaube, überzeugt zu haben,
1) Paul Gerade: Meine Beobachtungen und Erlebnisse als Dorfpastor, 1895.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0423"n="944"/><fwplace="top"type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
des letzten Jahrhunderts. Für Diderot verweise ich auf S. 329, Rousseau’s<lb/>
Ansichten sind bekannt, Voltaire, der angebliche Skeptiker, schreibt:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#i">Et pour nous élever, descendons dans nous-mêmes!</hi></quote></cit><lb/><p>Auf Wilhelm Meister’s Wanderjahre verwies ich vorhin; Schiller schreibt<lb/>
1795 an Goethe: »Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die<lb/>
Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Er-<lb/>
scheinungen derselben im Leben scheinen mir bloss deswegen so widrig<lb/>
und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten<lb/>
sind«. Gestehen wir es nur aufrichtig: zwischen dem Christentum,<lb/>
wie es uns das Völkerchaos aufzwang, und dem innersten Seelenglauben<lb/>
des Germanen hat es nie wirkliche Übereinstimmung gegeben, niemals.<lb/>
Goethe durfte aus voller Brust singen:</p><lb/><cit><quote>Den deutschen Mannen gereicht’s zum Ruhm,<lb/>
Dass sie gehasst das Christentum!</quote></cit><lb/><p>Und heute kommt ein erfahrener Pfarrer und versichert uns — was<lb/>
wir längst schon ahnten — der deutsche Bauer sei überhaupt niemals<lb/>
zum Christentume bekehrt worden.<noteplace="foot"n="1)">Paul Gerade: <hirendition="#i">Meine Beobachtungen und Erlebnisse als Dorfpastor,</hi> 1895.</note> Ein für uns annehmbares Christen-<lb/>
tum ist jetzt erst möglich geworden; nicht etwa, weil es dazu einer<lb/>
Philosophie bedurft hätte, es bedurfte aber der Hinwegräumung falscher<lb/>
Lehren und der Begründung einer grossen allumfassenden wahren Welt-<lb/>
anschauung, von welcher Jeder so viel aufnehmen wird, wie er kann,<lb/>
und innerhalb welcher für den Geringsten wie für den Tüchtigsten<lb/>
das Beispiel und die Worte Christi zugänglich sein werden.</p><lb/><p>Hiermit betrachte ich den Notbrückenbau für den Abschnitt<lb/>
Weltanschauung (einschliesslich Religion) als beendet. Er ist verhältnis-<lb/>
mässig ausführlich geworden, weil hier nur grösste Klarheit dienen<lb/>
und die Aufmerksamkeit wach halten konnte. Trotz der Länge ist<lb/>
das ganze nur eine flüchtige Skizze, bei welcher, wie man gesehen<lb/>
hat, einerseits Wissenschaft, andrerseits Religion alles Interesse be-<lb/>
ansprucht hat; diese zwei zusammen bilden eine lebendige Welt-<lb/>
anschauung, und ohne eine solche besitzen wir keine Kultur; wogegen<lb/>
reine Philosophie, als eine Disciplin und Gymnastik der Vernunft, ledig-<lb/>
lich ein Werkzeug ist und hier keinen Platz finden konnte.</p><lb/><p>Was die starke Hervorhebung Immanuel Kant’s am Schlusse an-<lb/>
betrifft, so hat mich hierzu vor allem die Rücksicht auf möglichste<lb/>
Vereinfachung und Klarheit bestimmt. Ich glaube, überzeugt zu haben,<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[944/0423]
Die Entstehung einer neuen Welt.
des letzten Jahrhunderts. Für Diderot verweise ich auf S. 329, Rousseau’s
Ansichten sind bekannt, Voltaire, der angebliche Skeptiker, schreibt:
Et pour nous élever, descendons dans nous-mêmes!
Auf Wilhelm Meister’s Wanderjahre verwies ich vorhin; Schiller schreibt
1795 an Goethe: »Ich finde in der christlichen Religion virtualiter die
Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die verschiedenen Er-
scheinungen derselben im Leben scheinen mir bloss deswegen so widrig
und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses Höchsten
sind«. Gestehen wir es nur aufrichtig: zwischen dem Christentum,
wie es uns das Völkerchaos aufzwang, und dem innersten Seelenglauben
des Germanen hat es nie wirkliche Übereinstimmung gegeben, niemals.
Goethe durfte aus voller Brust singen:
Den deutschen Mannen gereicht’s zum Ruhm,
Dass sie gehasst das Christentum!
Und heute kommt ein erfahrener Pfarrer und versichert uns — was
wir längst schon ahnten — der deutsche Bauer sei überhaupt niemals
zum Christentume bekehrt worden. 1) Ein für uns annehmbares Christen-
tum ist jetzt erst möglich geworden; nicht etwa, weil es dazu einer
Philosophie bedurft hätte, es bedurfte aber der Hinwegräumung falscher
Lehren und der Begründung einer grossen allumfassenden wahren Welt-
anschauung, von welcher Jeder so viel aufnehmen wird, wie er kann,
und innerhalb welcher für den Geringsten wie für den Tüchtigsten
das Beispiel und die Worte Christi zugänglich sein werden.
Hiermit betrachte ich den Notbrückenbau für den Abschnitt
Weltanschauung (einschliesslich Religion) als beendet. Er ist verhältnis-
mässig ausführlich geworden, weil hier nur grösste Klarheit dienen
und die Aufmerksamkeit wach halten konnte. Trotz der Länge ist
das ganze nur eine flüchtige Skizze, bei welcher, wie man gesehen
hat, einerseits Wissenschaft, andrerseits Religion alles Interesse be-
ansprucht hat; diese zwei zusammen bilden eine lebendige Welt-
anschauung, und ohne eine solche besitzen wir keine Kultur; wogegen
reine Philosophie, als eine Disciplin und Gymnastik der Vernunft, ledig-
lich ein Werkzeug ist und hier keinen Platz finden konnte.
Was die starke Hervorhebung Immanuel Kant’s am Schlusse an-
betrifft, so hat mich hierzu vor allem die Rücksicht auf möglichste
Vereinfachung und Klarheit bestimmt. Ich glaube, überzeugt zu haben,
1) Paul Gerade: Meine Beobachtungen und Erlebnisse als Dorfpastor, 1895.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 944. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/423>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.