Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Religion. hatte sie keinen Sinn;1) dem Griechen dagegen, und später dem Ger-manen, war sie sofort als Ausgangspunkt der ganzen im Buche Genesis niedergelegten moralischen Mythologie des Menschenwesens aufge- gangen. Darum konnten diese nicht umhin, "sich den Kopf darüber zu zerbrechen". Verwarfen sie gleich den Juden den Sündenfall ganz und gar, so vernichteten sie zugleich den Glauben an die göttliche Gnade, und damit schwand die Vorstellung der Erlösung, kurz, Religion in unserem indoeuropäischen Sinne war vernichtet und es blieb lediglich jüdischer Rationalismus übrig -- ohne die Kraft und das ideale Element jüdischer Nationaltradition und Blutsgemeinschaft. Das ist es, was Augustinus deutlich erkannte. Andererseits aber: fasste man diese uralte sumero-akkadische Fabel, welche, wie ich vorhin sagte, Erkenntnis wecken sollte, als die Erkenntnis selber auf, glaubte man sie in jener jüdischen Weise deuten zu müssen, welche alles Mythische als historische, materiell richtige Chronik auffasst, so folgte daraus eine ungeheuerliche und empörende Lehre, oder, wie der Bischof Julianus von Eclanum (Anfang des 5. Jahrhunderts) sich ausdrückt: "ein dummes und gott- loses Dogma". Diese Einsicht war es, welche den frommen Britten Pelagius -- und vor ihm, wie es scheint, fast das gesamte hellenische Christentum -- bestimmte. Ich habe verschiedene Dogmen- und Kirchengeschichten studiert, ohne die von mir hier dargelegte so ein- fache Ursache des unvermeidlichen pelagianischen Streites irgendwo auch nur angedeutet zu sehen. Von Augustin's Gnaden- und Sünden- lehre meint z. B. Harnack in seiner Dogmengeschichte: "Als Ausdruck psychologisch-religiöser Erfahrung ist sie wahr; aber projiziert in die Geschichte ist sie falsch", und etwas weiter: "der Bibelbuchstabe wirkte trübend ein"; hier streift er zweimal die Erklärung, doch ohne sie zu erblicken, und so bleibt denn auch die ganze weitere Darlegung eine abstrakt-theologische, aus welcher sich keine klare Vorstellung ergiebt. Denn, wie man sieht, es handelt sich hier (wenn ich mich einer popu- lären Redensart bedienen darf) um eine Zwickmühle. Indem Pelagius die grob-materialistische, konkret-historische Auffassung von Adam's Fall mit Empörung verwirft, beweist er sein tief religiöses Empfinden und bewährt es in glücklicher Erhebung gegen platten Semitismus, zu- gleich -- indem er z. B. den Tod als ein allgemeines, notwendiges Naturphänomen nachweist, welches mit Sünde nichts zu schaffen 1) Prof. Graetz a. a. O. I, 650 hält die Lehre von der Erbsünde für eine
"neue Lehre", von Paulus erfunden!! Religion. hatte sie keinen Sinn;1) dem Griechen dagegen, und später dem Ger-manen, war sie sofort als Ausgangspunkt der ganzen im Buche Genesis niedergelegten moralischen Mythologie des Menschenwesens aufge- gangen. Darum konnten diese nicht umhin, »sich den Kopf darüber zu zerbrechen«. Verwarfen sie gleich den Juden den Sündenfall ganz und gar, so vernichteten sie zugleich den Glauben an die göttliche Gnade, und damit schwand die Vorstellung der Erlösung, kurz, Religion in unserem indoeuropäischen Sinne war vernichtet und es blieb lediglich jüdischer Rationalismus übrig — ohne die Kraft und das ideale Element jüdischer Nationaltradition und Blutsgemeinschaft. Das ist es, was Augustinus deutlich erkannte. Andererseits aber: fasste man diese uralte sumero-akkadische Fabel, welche, wie ich vorhin sagte, Erkenntnis wecken sollte, als die Erkenntnis selber auf, glaubte man sie in jener jüdischen Weise deuten zu müssen, welche alles Mythische als historische, materiell richtige Chronik auffasst, so folgte daraus eine ungeheuerliche und empörende Lehre, oder, wie der Bischof Julianus von Eclanum (Anfang des 5. Jahrhunderts) sich ausdrückt: »ein dummes und gott- loses Dogma«. Diese Einsicht war es, welche den frommen Britten Pelagius — und vor ihm, wie es scheint, fast das gesamte hellenische Christentum — bestimmte. Ich habe verschiedene Dogmen- und Kirchengeschichten studiert, ohne die von mir hier dargelegte so ein- fache Ursache des unvermeidlichen pelagianischen Streites irgendwo auch nur angedeutet zu sehen. Von Augustin’s Gnaden- und Sünden- lehre meint z. B. Harnack in seiner Dogmengeschichte: »Als Ausdruck psychologisch-religiöser Erfahrung ist sie wahr; aber projiziert in die Geschichte ist sie falsch«, und etwas weiter: »der Bibelbuchstabe wirkte trübend ein«; hier streift er zweimal die Erklärung, doch ohne sie zu erblicken, und so bleibt denn auch die ganze weitere Darlegung eine abstrakt-theologische, aus welcher sich keine klare Vorstellung ergiebt. Denn, wie man sieht, es handelt sich hier (wenn ich mich einer popu- lären Redensart bedienen darf) um eine Zwickmühle. Indem Pelagius die grob-materialistische, konkret-historische Auffassung von Adam’s Fall mit Empörung verwirft, beweist er sein tief religiöses Empfinden und bewährt es in glücklicher Erhebung gegen platten Semitismus, zu- gleich — indem er z. B. den Tod als ein allgemeines, notwendiges Naturphänomen nachweist, welches mit Sünde nichts zu schaffen 1) Prof. Graetz a. a. O. I, 650 hält die Lehre von der Erbsünde für eine
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hatte sie keinen Sinn; 1) dem Griechen dagegen, und später dem Ger-
manen, war sie sofort als Ausgangspunkt der ganzen im Buche Genesis
niedergelegten moralischen Mythologie des Menschenwesens aufge-
gangen. Darum konnten diese nicht umhin, »sich den Kopf darüber
zu zerbrechen«. Verwarfen sie gleich den Juden den Sündenfall ganz
und gar, so vernichteten sie zugleich den Glauben an die göttliche
Gnade, und damit schwand die Vorstellung der Erlösung, kurz, Religion
in unserem indoeuropäischen Sinne war vernichtet und es blieb lediglich
jüdischer Rationalismus übrig — ohne die Kraft und das ideale Element
jüdischer Nationaltradition und Blutsgemeinschaft. Das ist es, was
Augustinus deutlich erkannte. Andererseits aber: fasste man diese uralte
sumero-akkadische Fabel, welche, wie ich vorhin sagte, Erkenntnis
wecken sollte, als die Erkenntnis selber auf, glaubte man sie in jener
jüdischen Weise deuten zu müssen, welche alles Mythische als historische,
materiell richtige Chronik auffasst, so folgte daraus eine ungeheuerliche
und empörende Lehre, oder, wie der Bischof Julianus von Eclanum
(Anfang des 5. Jahrhunderts) sich ausdrückt: »ein dummes und gott-
loses Dogma«. Diese Einsicht war es, welche den frommen Britten
Pelagius — und vor ihm, wie es scheint, fast das gesamte hellenische
Christentum — bestimmte. Ich habe verschiedene Dogmen- und
Kirchengeschichten studiert, ohne die von mir hier dargelegte so ein-
fache Ursache des unvermeidlichen pelagianischen Streites irgendwo
auch nur angedeutet zu sehen. Von Augustin’s Gnaden- und Sünden-
lehre meint z. B. Harnack in seiner Dogmengeschichte: »Als Ausdruck
psychologisch-religiöser Erfahrung ist sie wahr; aber projiziert in die
Geschichte ist sie falsch«, und etwas weiter: »der Bibelbuchstabe wirkte
trübend ein«; hier streift er zweimal die Erklärung, doch ohne sie zu
erblicken, und so bleibt denn auch die ganze weitere Darlegung eine
abstrakt-theologische, aus welcher sich keine klare Vorstellung ergiebt.
Denn, wie man sieht, es handelt sich hier (wenn ich mich einer popu-
lären Redensart bedienen darf) um eine Zwickmühle. Indem Pelagius
die grob-materialistische, konkret-historische Auffassung von Adam’s
Fall mit Empörung verwirft, beweist er sein tief religiöses Empfinden
und bewährt es in glücklicher Erhebung gegen platten Semitismus, zu-
gleich — indem er z. B. den Tod als ein allgemeines, notwendiges
Naturphänomen nachweist, welches mit Sünde nichts zu schaffen
1) Prof. Graetz a. a. O. I, 650 hält die Lehre von der Erbsünde für eine
»neue Lehre«, von Paulus erfunden!!
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