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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.

Ein konkretes Beispiel muss gegeben werden, und da wir überall
dieselbe Nachblüte Hegel'schen Wahnes finden, ist es ziemlich gleich-
gültig, wohin wir greifen. Ich nehme ein unter Laien weitverbreitetes,
vortreffliches Werk zur Hand, die Einführung in das Studium der
neueren Kunstgeschichte
von Professor Alwin Schultz, dem rühmlichst
bekannten Prager Gelehrten; es liegt mir in der Ausgabe vom Jahre
1887 vor. Hier lesen wir S. 5: "Hat je zugleich die Kunst und die
Wissenschaft im selben Augenblicke (sic!) ihre besten Früchte gezeitigt?
ist Aristoteles nicht aufgetreten, als die heroische Zeit der griechischen
Kunst bereits vorüber war? und welcher Gelehrter (sic!) hat zu Lionardo's,
zu Michelangelo's, zu Raffael's Zeiten gelebt, dessen Werke denen jener
Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden könnten? Nein!
Kunst und Wissenschaft sind nie zu gleicher Zeit mit Erfolg von den
Völkern gepflegt worden; vielmehr geht die Kunst der Wissenschaft
voraus: die Wissenschaft tritt erst recht in Kraft, wenn die glänzende
Epoche der Kunst schon der Vergangenheit angehört, und je mehr die
Wissenschaft wächst und an Bedeutung gewinnt, desto mehr wird die
Kunst in den Hintergrund gedrängt. Auf beiden Gebieten gleichzeitig
hat kein Volk je etwas Grosses hervorgebracht. Wir können uns des-
halb recht wohl trösten, wenn wir sehen, wie in unserem Jahrhundert,
das so hervorragende, die ganze Kultur fördernde Erfolge auf dem
Gebiete der Wissenschaften aufzuweisen hat, die Kunst nur minder
Bedeutendes zu erreichen vermochte." In derselben Weise geht es noch
ein paar Seiten weiter. Die angeführte Stelle muss man mehrere Male
hintereinander aufmerksam durchlesen; man wird immer mehr staunen
über eine solche Fülle verkehrter Urteile und namentlich darüber, wie
ein gewissenhafter Gelehrter zu Gunsten einer überkommenen, künst-
lichen, grundfalschen Geschichtskonstruktion, weithin leuchtende, jedem
Gebildeten bekannte Thatsachen einfach ignorieren kann. Kein Wunder,
wenn wir arme Laien die Geschichte und in Folge dessen auch unsere
eigene Zeit nicht mehr verstehen. Wir wollen sie aber verstehen.
Schauen wir uns zu diesem Zwecke die soeben angeführte offizielle
Geschichtsphilosophie etwas näher und mit kritischem Auge an.

Zunächst frage ich: gesetzt den Fall, es verhielte sich bei den
Hellenen, wie Professor Schultz sagt, was würde das für uns beweisen?
Dahinter steckt wieder der vermaledeite, abstrakte Menschheitsbegriff.
Denn es ist nicht allein von den Griechen die Rede, sondern allgemeine
Gesetze werden mit "je" und mit "nie" aufgestellt, als ob man uns
alle -- Ägypter, Chinesen, Congoneger, Germanen -- in einen

Die Entstehung einer neuen Welt.

Ein konkretes Beispiel muss gegeben werden, und da wir überall
dieselbe Nachblüte Hegel’schen Wahnes finden, ist es ziemlich gleich-
gültig, wohin wir greifen. Ich nehme ein unter Laien weitverbreitetes,
vortreffliches Werk zur Hand, die Einführung in das Studium der
neueren Kunstgeschichte
von Professor Alwin Schultz, dem rühmlichst
bekannten Prager Gelehrten; es liegt mir in der Ausgabe vom Jahre
1887 vor. Hier lesen wir S. 5: »Hat je zugleich die Kunst und die
Wissenschaft im selben Augenblicke (sic!) ihre besten Früchte gezeitigt?
ist Aristoteles nicht aufgetreten, als die heroische Zeit der griechischen
Kunst bereits vorüber war? und welcher Gelehrter (sic!) hat zu Lionardo’s,
zu Michelangelo’s, zu Raffael’s Zeiten gelebt, dessen Werke denen jener
Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden könnten? Nein!
Kunst und Wissenschaft sind nie zu gleicher Zeit mit Erfolg von den
Völkern gepflegt worden; vielmehr geht die Kunst der Wissenschaft
voraus: die Wissenschaft tritt erst recht in Kraft, wenn die glänzende
Epoche der Kunst schon der Vergangenheit angehört, und je mehr die
Wissenschaft wächst und an Bedeutung gewinnt, desto mehr wird die
Kunst in den Hintergrund gedrängt. Auf beiden Gebieten gleichzeitig
hat kein Volk je etwas Grosses hervorgebracht. Wir können uns des-
halb recht wohl trösten, wenn wir sehen, wie in unserem Jahrhundert,
das so hervorragende, die ganze Kultur fördernde Erfolge auf dem
Gebiete der Wissenschaften aufzuweisen hat, die Kunst nur minder
Bedeutendes zu erreichen vermochte.« In derselben Weise geht es noch
ein paar Seiten weiter. Die angeführte Stelle muss man mehrere Male
hintereinander aufmerksam durchlesen; man wird immer mehr staunen
über eine solche Fülle verkehrter Urteile und namentlich darüber, wie
ein gewissenhafter Gelehrter zu Gunsten einer überkommenen, künst-
lichen, grundfalschen Geschichtskonstruktion, weithin leuchtende, jedem
Gebildeten bekannte Thatsachen einfach ignorieren kann. Kein Wunder,
wenn wir arme Laien die Geschichte und in Folge dessen auch unsere
eigene Zeit nicht mehr verstehen. Wir wollen sie aber verstehen.
Schauen wir uns zu diesem Zwecke die soeben angeführte offizielle
Geschichtsphilosophie etwas näher und mit kritischem Auge an.

Zunächst frage ich: gesetzt den Fall, es verhielte sich bei den
Hellenen, wie Professor Schultz sagt, was würde das für uns beweisen?
Dahinter steckt wieder der vermaledeite, abstrakte Menschheitsbegriff.
Denn es ist nicht allein von den Griechen die Rede, sondern allgemeine
Gesetze werden mit »je« und mit »nie« aufgestellt, als ob man uns
alle — Ägypter, Chinesen, Congoneger, Germanen — in einen

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[962/0441] Die Entstehung einer neuen Welt. Ein konkretes Beispiel muss gegeben werden, und da wir überall dieselbe Nachblüte Hegel’schen Wahnes finden, ist es ziemlich gleich- gültig, wohin wir greifen. Ich nehme ein unter Laien weitverbreitetes, vortreffliches Werk zur Hand, die Einführung in das Studium der neueren Kunstgeschichte von Professor Alwin Schultz, dem rühmlichst bekannten Prager Gelehrten; es liegt mir in der Ausgabe vom Jahre 1887 vor. Hier lesen wir S. 5: »Hat je zugleich die Kunst und die Wissenschaft im selben Augenblicke (sic!) ihre besten Früchte gezeitigt? ist Aristoteles nicht aufgetreten, als die heroische Zeit der griechischen Kunst bereits vorüber war? und welcher Gelehrter (sic!) hat zu Lionardo’s, zu Michelangelo’s, zu Raffael’s Zeiten gelebt, dessen Werke denen jener Meister nur annähernd an die Seite gestellt werden könnten? Nein! Kunst und Wissenschaft sind nie zu gleicher Zeit mit Erfolg von den Völkern gepflegt worden; vielmehr geht die Kunst der Wissenschaft voraus: die Wissenschaft tritt erst recht in Kraft, wenn die glänzende Epoche der Kunst schon der Vergangenheit angehört, und je mehr die Wissenschaft wächst und an Bedeutung gewinnt, desto mehr wird die Kunst in den Hintergrund gedrängt. Auf beiden Gebieten gleichzeitig hat kein Volk je etwas Grosses hervorgebracht. Wir können uns des- halb recht wohl trösten, wenn wir sehen, wie in unserem Jahrhundert, das so hervorragende, die ganze Kultur fördernde Erfolge auf dem Gebiete der Wissenschaften aufzuweisen hat, die Kunst nur minder Bedeutendes zu erreichen vermochte.« In derselben Weise geht es noch ein paar Seiten weiter. Die angeführte Stelle muss man mehrere Male hintereinander aufmerksam durchlesen; man wird immer mehr staunen über eine solche Fülle verkehrter Urteile und namentlich darüber, wie ein gewissenhafter Gelehrter zu Gunsten einer überkommenen, künst- lichen, grundfalschen Geschichtskonstruktion, weithin leuchtende, jedem Gebildeten bekannte Thatsachen einfach ignorieren kann. Kein Wunder, wenn wir arme Laien die Geschichte und in Folge dessen auch unsere eigene Zeit nicht mehr verstehen. Wir wollen sie aber verstehen. Schauen wir uns zu diesem Zwecke die soeben angeführte offizielle Geschichtsphilosophie etwas näher und mit kritischem Auge an. Zunächst frage ich: gesetzt den Fall, es verhielte sich bei den Hellenen, wie Professor Schultz sagt, was würde das für uns beweisen? Dahinter steckt wieder der vermaledeite, abstrakte Menschheitsbegriff. Denn es ist nicht allein von den Griechen die Rede, sondern allgemeine Gesetze werden mit »je« und mit »nie« aufgestellt, als ob man uns alle — Ägypter, Chinesen, Congoneger, Germanen — in einen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 962. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/441>, abgerufen am 22.11.2024.