Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Kunst.
Künstler werden wir doch zugeben müssen, dass ein Nikolaus Koper-
nikus einen bedeutenderen, weiter reichenden und mehr bis in die
fernste Zukunft bestimmenden Einfluss auf die Kultur der gesamten
Menschheit ausgeübt hat, als Michelangelo und Raffael. Georg Chri-
stoph Lichtenberg ruft aus, nachdem er die wissenschaftliche und
moralische Grösse des Kopernikus dargethan hat: "Wenn dieses kein
grosser Mann war, wer in der Welt kann Anspruch auf diesen Namen
machen?"1) Und Kopernikus ist so genau der Zeitgenosse Raffael's
und Michelangelo's, dass sein Leben dasjenige Raffael's einschliesst.
Raffael ist geboren 1483, gestorben 1520, Kopernikus ist geboren 1473,
gestorben 1543. Kopernikus war in Rom berühmt, als man Raffael's
Namen dort noch nie gehört hatte, und als der Urbinat 1508 von
Julius II. berufen wurde, trug der Astronom seine Theorie des kos-
mischen Weltsystems schon fertig im Kopfe, wenn er gleich, als
echter Naturforscher, noch über 30 Jahre daran arbeitete, ehe er sie
veröffentlichte. Kopernikus ist 21 Jahre jünger als Leonardo, 2 Jahre
jünger als Albrecht Dürer, 2 Jahre älter als Michelangelo, 4 Jahre
älter als Tizian; alle diese Männer standen zwischen 1500 und 1520
auf der Höhe ihres Wirkens. Nicht sie allein aber, auch der bahn-
brechende Naturforscher Paracelsus2) ist nur 10 Jahre jünger als Raffael
und beschloss sein ereignisreiches und für die Wissenschaft epoche-
machendes Leben mehr denn 20 Jahre früher als Michelangelo. -- Nun
darf man aber nicht übersehen, dass Männer wie Kopernikus und
Paracelsus nicht vom Himmel fallen; ist selbst die Kunst des Genies
eine Kollektiverscheinung, so ist es die Wissenschaft in viel höherem
Grade. Schon der erste Biograph des Kopernikus, Gassendi, wies
nach, dass dieser ohne seinen Vorgänger, den unsterblichen Regiomon-
tanus, und Regiomontanus wieder ohne seinen Lehrer Purbach nicht
möglich gewesen wäre; und andrerseits erhärtet ein Fachmann, der
Astronom Bailly, dass es nur noch einiger technischer Vervollkommnung
seiner Werkzeuge bedurfte, damit Regiomontanus die meisten Ent-
deckungen des Galilei vorweggenommen hätte.3)

Kunst und Wissenschaft dürften überhaupt nicht in der Art zu
einander in Parallele gestellt werden wie unsere Kunsthistoriker es

1) Siehe dessen Leben des Kopernikus in seinen physikalischen und mathema-
tischen Schriften,
Ausg. 1844, I. Teil, S. 51.
2) Vergl. S. 861, 888 fg.
3) Beide Angaben entlehne ich der oben angeführten Lichtenberg'schen
Biographie.

Kunst.
Künstler werden wir doch zugeben müssen, dass ein Nikolaus Koper-
nikus einen bedeutenderen, weiter reichenden und mehr bis in die
fernste Zukunft bestimmenden Einfluss auf die Kultur der gesamten
Menschheit ausgeübt hat, als Michelangelo und Raffael. Georg Chri-
stoph Lichtenberg ruft aus, nachdem er die wissenschaftliche und
moralische Grösse des Kopernikus dargethan hat: »Wenn dieses kein
grosser Mann war, wer in der Welt kann Anspruch auf diesen Namen
machen?«1) Und Kopernikus ist so genau der Zeitgenosse Raffael’s
und Michelangelo’s, dass sein Leben dasjenige Raffael’s einschliesst.
Raffael ist geboren 1483, gestorben 1520, Kopernikus ist geboren 1473,
gestorben 1543. Kopernikus war in Rom berühmt, als man Raffael’s
Namen dort noch nie gehört hatte, und als der Urbinat 1508 von
Julius II. berufen wurde, trug der Astronom seine Theorie des kos-
mischen Weltsystems schon fertig im Kopfe, wenn er gleich, als
echter Naturforscher, noch über 30 Jahre daran arbeitete, ehe er sie
veröffentlichte. Kopernikus ist 21 Jahre jünger als Leonardo, 2 Jahre
jünger als Albrecht Dürer, 2 Jahre älter als Michelangelo, 4 Jahre
älter als Tizian; alle diese Männer standen zwischen 1500 und 1520
auf der Höhe ihres Wirkens. Nicht sie allein aber, auch der bahn-
brechende Naturforscher Paracelsus2) ist nur 10 Jahre jünger als Raffael
und beschloss sein ereignisreiches und für die Wissenschaft epoche-
machendes Leben mehr denn 20 Jahre früher als Michelangelo. — Nun
darf man aber nicht übersehen, dass Männer wie Kopernikus und
Paracelsus nicht vom Himmel fallen; ist selbst die Kunst des Genies
eine Kollektiverscheinung, so ist es die Wissenschaft in viel höherem
Grade. Schon der erste Biograph des Kopernikus, Gassendi, wies
nach, dass dieser ohne seinen Vorgänger, den unsterblichen Regiomon-
tanus, und Regiomontanus wieder ohne seinen Lehrer Purbach nicht
möglich gewesen wäre; und andrerseits erhärtet ein Fachmann, der
Astronom Bailly, dass es nur noch einiger technischer Vervollkommnung
seiner Werkzeuge bedurfte, damit Regiomontanus die meisten Ent-
deckungen des Galilei vorweggenommen hätte.3)

Kunst und Wissenschaft dürften überhaupt nicht in der Art zu
einander in Parallele gestellt werden wie unsere Kunsthistoriker es

1) Siehe dessen Leben des Kopernikus in seinen physikalischen und mathema-
tischen Schriften,
Ausg. 1844, I. Teil, S. 51.
2) Vergl. S. 861, 888 fg.
3) Beide Angaben entlehne ich der oben angeführten Lichtenberg’schen
Biographie.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0446" n="967"/><fw place="top" type="header">Kunst.</fw><lb/>
Künstler werden wir doch zugeben müssen, dass ein Nikolaus Koper-<lb/>
nikus einen bedeutenderen, weiter reichenden und mehr bis in die<lb/>
fernste Zukunft bestimmenden Einfluss auf die Kultur der gesamten<lb/>
Menschheit ausgeübt hat, als Michelangelo und Raffael. Georg Chri-<lb/>
stoph Lichtenberg ruft aus, nachdem er die wissenschaftliche und<lb/>
moralische Grösse des Kopernikus dargethan hat: »Wenn dieses kein<lb/>
grosser Mann war, wer in der Welt kann Anspruch auf diesen Namen<lb/>
machen?«<note place="foot" n="1)">Siehe dessen <hi rendition="#i">Leben des Kopernikus</hi> in seinen <hi rendition="#i">physikalischen und mathema-<lb/>
tischen Schriften,</hi> Ausg. 1844, I. Teil, S. 51.</note> Und Kopernikus ist so genau der Zeitgenosse Raffael&#x2019;s<lb/>
und Michelangelo&#x2019;s, dass sein Leben dasjenige Raffael&#x2019;s einschliesst.<lb/>
Raffael ist geboren 1483, gestorben 1520, Kopernikus ist geboren 1473,<lb/>
gestorben 1543. Kopernikus war in Rom berühmt, als man Raffael&#x2019;s<lb/>
Namen dort noch nie gehört hatte, und als der Urbinat 1508 von<lb/>
Julius II. berufen wurde, trug der Astronom seine Theorie des kos-<lb/>
mischen Weltsystems schon fertig im Kopfe, wenn er gleich, als<lb/>
echter Naturforscher, noch über 30 Jahre daran arbeitete, ehe er sie<lb/>
veröffentlichte. Kopernikus ist 21 Jahre jünger als Leonardo, 2 Jahre<lb/>
jünger als Albrecht Dürer, 2 Jahre älter als Michelangelo, 4 Jahre<lb/>
älter als Tizian; alle diese Männer standen zwischen 1500 und 1520<lb/>
auf der Höhe ihres Wirkens. Nicht sie allein aber, auch der bahn-<lb/>
brechende Naturforscher Paracelsus<note place="foot" n="2)">Vergl. S. 861, 888 fg.</note> ist nur 10 Jahre jünger als Raffael<lb/>
und beschloss sein ereignisreiches und für die Wissenschaft epoche-<lb/>
machendes Leben mehr denn 20 Jahre früher als Michelangelo. &#x2014; Nun<lb/>
darf man aber nicht übersehen, dass Männer wie Kopernikus und<lb/>
Paracelsus nicht vom Himmel fallen; ist selbst die Kunst des Genies<lb/>
eine Kollektiverscheinung, so ist es die Wissenschaft in viel höherem<lb/>
Grade. Schon der erste Biograph des Kopernikus, Gassendi, wies<lb/>
nach, dass dieser ohne seinen Vorgänger, den unsterblichen Regiomon-<lb/>
tanus, und Regiomontanus wieder ohne seinen Lehrer Purbach nicht<lb/>
möglich gewesen wäre; und andrerseits erhärtet ein Fachmann, der<lb/>
Astronom Bailly, dass es nur noch einiger technischer Vervollkommnung<lb/>
seiner Werkzeuge bedurfte, damit Regiomontanus die meisten Ent-<lb/>
deckungen des Galilei vorweggenommen hätte.<note place="foot" n="3)">Beide Angaben entlehne ich der oben angeführten Lichtenberg&#x2019;schen<lb/>
Biographie.</note></p><lb/>
              <p>Kunst und Wissenschaft dürften überhaupt nicht in der Art zu<lb/>
einander in Parallele gestellt werden wie unsere Kunsthistoriker es<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[967/0446] Kunst. Künstler werden wir doch zugeben müssen, dass ein Nikolaus Koper- nikus einen bedeutenderen, weiter reichenden und mehr bis in die fernste Zukunft bestimmenden Einfluss auf die Kultur der gesamten Menschheit ausgeübt hat, als Michelangelo und Raffael. Georg Chri- stoph Lichtenberg ruft aus, nachdem er die wissenschaftliche und moralische Grösse des Kopernikus dargethan hat: »Wenn dieses kein grosser Mann war, wer in der Welt kann Anspruch auf diesen Namen machen?« 1) Und Kopernikus ist so genau der Zeitgenosse Raffael’s und Michelangelo’s, dass sein Leben dasjenige Raffael’s einschliesst. Raffael ist geboren 1483, gestorben 1520, Kopernikus ist geboren 1473, gestorben 1543. Kopernikus war in Rom berühmt, als man Raffael’s Namen dort noch nie gehört hatte, und als der Urbinat 1508 von Julius II. berufen wurde, trug der Astronom seine Theorie des kos- mischen Weltsystems schon fertig im Kopfe, wenn er gleich, als echter Naturforscher, noch über 30 Jahre daran arbeitete, ehe er sie veröffentlichte. Kopernikus ist 21 Jahre jünger als Leonardo, 2 Jahre jünger als Albrecht Dürer, 2 Jahre älter als Michelangelo, 4 Jahre älter als Tizian; alle diese Männer standen zwischen 1500 und 1520 auf der Höhe ihres Wirkens. Nicht sie allein aber, auch der bahn- brechende Naturforscher Paracelsus 2) ist nur 10 Jahre jünger als Raffael und beschloss sein ereignisreiches und für die Wissenschaft epoche- machendes Leben mehr denn 20 Jahre früher als Michelangelo. — Nun darf man aber nicht übersehen, dass Männer wie Kopernikus und Paracelsus nicht vom Himmel fallen; ist selbst die Kunst des Genies eine Kollektiverscheinung, so ist es die Wissenschaft in viel höherem Grade. Schon der erste Biograph des Kopernikus, Gassendi, wies nach, dass dieser ohne seinen Vorgänger, den unsterblichen Regiomon- tanus, und Regiomontanus wieder ohne seinen Lehrer Purbach nicht möglich gewesen wäre; und andrerseits erhärtet ein Fachmann, der Astronom Bailly, dass es nur noch einiger technischer Vervollkommnung seiner Werkzeuge bedurfte, damit Regiomontanus die meisten Ent- deckungen des Galilei vorweggenommen hätte. 3) Kunst und Wissenschaft dürften überhaupt nicht in der Art zu einander in Parallele gestellt werden wie unsere Kunsthistoriker es 1) Siehe dessen Leben des Kopernikus in seinen physikalischen und mathema- tischen Schriften, Ausg. 1844, I. Teil, S. 51. 2) Vergl. S. 861, 888 fg. 3) Beide Angaben entlehne ich der oben angeführten Lichtenberg’schen Biographie.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/446
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 967. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/446>, abgerufen am 22.11.2024.