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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
sehen wird man nicht weniger staunen, wie diese Männer aus den
verschiedensten, einander fernstliegenden Quellen ihren Geist zu be-
rieseln verstehen: Goethe's Nährboden reicht von der vergleichenden
Knochenkunde bis zu der philologisch genauen Kritik der hebräischen
Thora, Leonardo's, von der inneren Anatomie des menschlichen Körpers
bis zu der thatsächlichen Ausführung jener grossartigen Kanalbauten,
von denen Goethe in seinen alten Tagen träumte. Wird man solchen
Männern gerecht, wenn man ihre künstlerische Befähigung nach ihrem
Schaffen innerhalb bestimmter Schablonen misst und benamst? Sollen
wir es dulden, wenn geistige Pygmäen von ihrem darwinistischen
Affenbaum herunterklettern, um sie in die Schranken ihres angeblichen
"Kunstfaches" zurückzuweisen? Gewiss nicht. "Nur als Schöpfer kann
der Mensch uns ehrwürdig sein", sagt Schiller.1) Die Naturbetrach-
tungen und die philosophischen Gedanken eines Leonardo und eines
Goethe sind durch ihren schöpferischen Charakter unbedingt ehrwürdig;
sie sind Kunst. Was hier nun sich sichtbar ereignet, weil wir bei
diesen ausserordentlichen Männern das Nehmen und Geben direkt an
dem einen Individuum beobachten können, geschieht allerorten durch
mehrfache Vermittelung und darum unbemerkt. Alles kann Quelle
der künstlerischen Inspiration sein, und andrerseits stehen oft, wo der
hastig Lebende es am wenigsten vermutet, Erfolge, die in letzter Instanz
auf künstlerische Anregung zurückzuführen sind. Nichts ist empfäng-
licher als menschliche Schaffenskraft; von überall her nimmt sie Eindrücke
auf, und bei ihr bedeutet ein neuer Eindruck einen Zuwachs, nicht
allein an Material, sondern auch an schöpferischer Befähigung, weil eben,
wie S. 192 und 762 und 806 betont wurde, die Natur allein, nicht der
Menschengeist, erfinderisch und genial ist. Es besteht darum ein enger
Zusammenhang zwischen Wissen und Kunst, und der grosse Künstler
(wir bemerken es von Homer an bis zu Goethe) ist stets ein ungemein
wissbegieriger Mensch. Aber die Kunst giebt das Empfangene mit Zinsen
zurück; durch tausend oft verborgene Kanäle wirkt sie zurück auf
Philosophie, Wissenschaft, Religion, Industrie, Leben, namentlich aber
auf die Möglichkeit des Wissens. Wie Goethe sagt: "Die Menschen
sind überhaupt der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft. Jene
gehört zur grossen Hälfte ihnen selbst, diese zur grossen Hälfte der
Welt an; -- so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst
denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten."2)

1) Über Anmut und Würde.
2) Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 1. Abteilung.

Kunst.
sehen wird man nicht weniger staunen, wie diese Männer aus den
verschiedensten, einander fernstliegenden Quellen ihren Geist zu be-
rieseln verstehen: Goethe’s Nährboden reicht von der vergleichenden
Knochenkunde bis zu der philologisch genauen Kritik der hebräischen
Thora, Leonardo’s, von der inneren Anatomie des menschlichen Körpers
bis zu der thatsächlichen Ausführung jener grossartigen Kanalbauten,
von denen Goethe in seinen alten Tagen träumte. Wird man solchen
Männern gerecht, wenn man ihre künstlerische Befähigung nach ihrem
Schaffen innerhalb bestimmter Schablonen misst und benamst? Sollen
wir es dulden, wenn geistige Pygmäen von ihrem darwinistischen
Affenbaum herunterklettern, um sie in die Schranken ihres angeblichen
»Kunstfaches« zurückzuweisen? Gewiss nicht. »Nur als Schöpfer kann
der Mensch uns ehrwürdig sein«, sagt Schiller.1) Die Naturbetrach-
tungen und die philosophischen Gedanken eines Leonardo und eines
Goethe sind durch ihren schöpferischen Charakter unbedingt ehrwürdig;
sie sind Kunst. Was hier nun sich sichtbar ereignet, weil wir bei
diesen ausserordentlichen Männern das Nehmen und Geben direkt an
dem einen Individuum beobachten können, geschieht allerorten durch
mehrfache Vermittelung und darum unbemerkt. Alles kann Quelle
der künstlerischen Inspiration sein, und andrerseits stehen oft, wo der
hastig Lebende es am wenigsten vermutet, Erfolge, die in letzter Instanz
auf künstlerische Anregung zurückzuführen sind. Nichts ist empfäng-
licher als menschliche Schaffenskraft; von überall her nimmt sie Eindrücke
auf, und bei ihr bedeutet ein neuer Eindruck einen Zuwachs, nicht
allein an Material, sondern auch an schöpferischer Befähigung, weil eben,
wie S. 192 und 762 und 806 betont wurde, die Natur allein, nicht der
Menschengeist, erfinderisch und genial ist. Es besteht darum ein enger
Zusammenhang zwischen Wissen und Kunst, und der grosse Künstler
(wir bemerken es von Homer an bis zu Goethe) ist stets ein ungemein
wissbegieriger Mensch. Aber die Kunst giebt das Empfangene mit Zinsen
zurück; durch tausend oft verborgene Kanäle wirkt sie zurück auf
Philosophie, Wissenschaft, Religion, Industrie, Leben, namentlich aber
auf die Möglichkeit des Wissens. Wie Goethe sagt: »Die Menschen
sind überhaupt der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft. Jene
gehört zur grossen Hälfte ihnen selbst, diese zur grossen Hälfte der
Welt an; — so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst
denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten.«2)

1) Über Anmut und Würde.
2) Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 1. Abteilung.
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[973/0452] Kunst. sehen wird man nicht weniger staunen, wie diese Männer aus den verschiedensten, einander fernstliegenden Quellen ihren Geist zu be- rieseln verstehen: Goethe’s Nährboden reicht von der vergleichenden Knochenkunde bis zu der philologisch genauen Kritik der hebräischen Thora, Leonardo’s, von der inneren Anatomie des menschlichen Körpers bis zu der thatsächlichen Ausführung jener grossartigen Kanalbauten, von denen Goethe in seinen alten Tagen träumte. Wird man solchen Männern gerecht, wenn man ihre künstlerische Befähigung nach ihrem Schaffen innerhalb bestimmter Schablonen misst und benamst? Sollen wir es dulden, wenn geistige Pygmäen von ihrem darwinistischen Affenbaum herunterklettern, um sie in die Schranken ihres angeblichen »Kunstfaches« zurückzuweisen? Gewiss nicht. »Nur als Schöpfer kann der Mensch uns ehrwürdig sein«, sagt Schiller. 1) Die Naturbetrach- tungen und die philosophischen Gedanken eines Leonardo und eines Goethe sind durch ihren schöpferischen Charakter unbedingt ehrwürdig; sie sind Kunst. Was hier nun sich sichtbar ereignet, weil wir bei diesen ausserordentlichen Männern das Nehmen und Geben direkt an dem einen Individuum beobachten können, geschieht allerorten durch mehrfache Vermittelung und darum unbemerkt. Alles kann Quelle der künstlerischen Inspiration sein, und andrerseits stehen oft, wo der hastig Lebende es am wenigsten vermutet, Erfolge, die in letzter Instanz auf künstlerische Anregung zurückzuführen sind. Nichts ist empfäng- licher als menschliche Schaffenskraft; von überall her nimmt sie Eindrücke auf, und bei ihr bedeutet ein neuer Eindruck einen Zuwachs, nicht allein an Material, sondern auch an schöpferischer Befähigung, weil eben, wie S. 192 und 762 und 806 betont wurde, die Natur allein, nicht der Menschengeist, erfinderisch und genial ist. Es besteht darum ein enger Zusammenhang zwischen Wissen und Kunst, und der grosse Künstler (wir bemerken es von Homer an bis zu Goethe) ist stets ein ungemein wissbegieriger Mensch. Aber die Kunst giebt das Empfangene mit Zinsen zurück; durch tausend oft verborgene Kanäle wirkt sie zurück auf Philosophie, Wissenschaft, Religion, Industrie, Leben, namentlich aber auf die Möglichkeit des Wissens. Wie Goethe sagt: »Die Menschen sind überhaupt der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft. Jene gehört zur grossen Hälfte ihnen selbst, diese zur grossen Hälfte der Welt an; — so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten.« 2) 1) Über Anmut und Würde. 2) Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 1. Abteilung.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 973. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/452>, abgerufen am 22.11.2024.