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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
baren Körper zu hüllen".1) Man sieht, der bildende Künstler wird
produktiv indem er an Gestalten anknüpft, welche der Dichter vor
die Phantasie hingezaubert hat. Allerdings wirkt auch manche gestalten-
treibende Anregung unmittelbar auf den Bildner, ohne dass sie erst
durch den Griffel des Dichters ihm übermittelt worden wäre; ein hervor-
ragendes Beispiel bietet sich uns dar in dem schon genannten fast
unermesslichen Einfluss des Franz von Assisi; doch darf man nicht
übersehen, dass nicht bloss ein Geschriebenes Poesie ist. Die poetische
Gestaltungskraft schlummert weitverbreitet; "der eigentliche Erfinder
war von jeher nur das Volk; der Einzelne kann nicht erfinden, sondern
sich nur der Erfindung bemächtigen."2) Kaum war diese wunderbare
Persönlichkeit des Franz verschwunden, und schon hatte das Volk sie
zu einer bestimmten Idealgestalt umgedichtet und verklärt; an diese
poetische Gestalt
knüpften Cimabue, Giotto und ihre Nachfolger
an. Damit ist aber die aus diesem Beispiel zu ziehende Lehre noch
nicht erschöpft. Ein Kunsthistoriker, der gerade den Einfluss des
Franz auf die bildende Kunst zum Gegenstand eingehendster Studien
gemacht hat, und diesen Einfluss jedenfalls eher zu überschätzen als zu
unterschätzen geneigt sein muss, Professor Henry Thode, macht doch
darauf aufmerksam, wie dieser Einfluss nur bis zu einem gewissen
Grade gestaltend gewirkt hat; eine derartige religiöse Bewegung regt
die schlummernden Tiefen der Persönlichkeit auf, bietet aber an und
für sich dem Auge wenig Stoff und noch weniger Form; damit die
bildende Kunst Italiens zu voller Kraft erwachsen konnte, musste ein
neuer Impuls gegeben werden und das war das Werk der Dichter.3)
Dante ist es, der die Italiener gelehrt hat, zu gestalten; im Bunde mit
ihm die gerade im 14. und 15. Jahrhundert wieder aufgefundene
Poesie des Altertums. Man darf natürlich diese Einsicht nicht klein-
lich auffassen; der Miniaturmaler des 10. Jahrhunderts mag sich -- um
frei erfinden zu dürfen -- Vers für Vers an einen Psalm anschliessen,
später wird ein derartiger Illustrator wenig geschätzt, man verlangt
freiere Erfindung; auf jedem Kunstgebiet erwächst der Künstler zu
immer grösserer Selbständigkeit; das Mass der Selbständigkeit wird
aber durch den Entwicklungsgrad und die Kraft der allumfassenden
Poesie bedingt.

1) Handbuch der Kunstgeschichte (1895), II, 76.
2) Richard Wagner: Entwürfe, Gedanken, Fragmente (1885), S. 19.
3) Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien 1885,
S. 524 fg.

Kunst.
baren Körper zu hüllen«.1) Man sieht, der bildende Künstler wird
produktiv indem er an Gestalten anknüpft, welche der Dichter vor
die Phantasie hingezaubert hat. Allerdings wirkt auch manche gestalten-
treibende Anregung unmittelbar auf den Bildner, ohne dass sie erst
durch den Griffel des Dichters ihm übermittelt worden wäre; ein hervor-
ragendes Beispiel bietet sich uns dar in dem schon genannten fast
unermesslichen Einfluss des Franz von Assisi; doch darf man nicht
übersehen, dass nicht bloss ein Geschriebenes Poesie ist. Die poetische
Gestaltungskraft schlummert weitverbreitet; »der eigentliche Erfinder
war von jeher nur das Volk; der Einzelne kann nicht erfinden, sondern
sich nur der Erfindung bemächtigen.«2) Kaum war diese wunderbare
Persönlichkeit des Franz verschwunden, und schon hatte das Volk sie
zu einer bestimmten Idealgestalt umgedichtet und verklärt; an diese
poetische Gestalt
knüpften Cimabue, Giotto und ihre Nachfolger
an. Damit ist aber die aus diesem Beispiel zu ziehende Lehre noch
nicht erschöpft. Ein Kunsthistoriker, der gerade den Einfluss des
Franz auf die bildende Kunst zum Gegenstand eingehendster Studien
gemacht hat, und diesen Einfluss jedenfalls eher zu überschätzen als zu
unterschätzen geneigt sein muss, Professor Henry Thode, macht doch
darauf aufmerksam, wie dieser Einfluss nur bis zu einem gewissen
Grade gestaltend gewirkt hat; eine derartige religiöse Bewegung regt
die schlummernden Tiefen der Persönlichkeit auf, bietet aber an und
für sich dem Auge wenig Stoff und noch weniger Form; damit die
bildende Kunst Italiens zu voller Kraft erwachsen konnte, musste ein
neuer Impuls gegeben werden und das war das Werk der Dichter.3)
Dante ist es, der die Italiener gelehrt hat, zu gestalten; im Bunde mit
ihm die gerade im 14. und 15. Jahrhundert wieder aufgefundene
Poesie des Altertums. Man darf natürlich diese Einsicht nicht klein-
lich auffassen; der Miniaturmaler des 10. Jahrhunderts mag sich — um
frei erfinden zu dürfen — Vers für Vers an einen Psalm anschliessen,
später wird ein derartiger Illustrator wenig geschätzt, man verlangt
freiere Erfindung; auf jedem Kunstgebiet erwächst der Künstler zu
immer grösserer Selbständigkeit; das Mass der Selbständigkeit wird
aber durch den Entwicklungsgrad und die Kraft der allumfassenden
Poesie bedingt.

1) Handbuch der Kunstgeschichte (1895), II, 76.
2) Richard Wagner: Entwürfe, Gedanken, Fragmente (1885), S. 19.
3) Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien 1885,
S. 524 fg.
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[975/0454] Kunst. baren Körper zu hüllen«. 1) Man sieht, der bildende Künstler wird produktiv indem er an Gestalten anknüpft, welche der Dichter vor die Phantasie hingezaubert hat. Allerdings wirkt auch manche gestalten- treibende Anregung unmittelbar auf den Bildner, ohne dass sie erst durch den Griffel des Dichters ihm übermittelt worden wäre; ein hervor- ragendes Beispiel bietet sich uns dar in dem schon genannten fast unermesslichen Einfluss des Franz von Assisi; doch darf man nicht übersehen, dass nicht bloss ein Geschriebenes Poesie ist. Die poetische Gestaltungskraft schlummert weitverbreitet; »der eigentliche Erfinder war von jeher nur das Volk; der Einzelne kann nicht erfinden, sondern sich nur der Erfindung bemächtigen.« 2) Kaum war diese wunderbare Persönlichkeit des Franz verschwunden, und schon hatte das Volk sie zu einer bestimmten Idealgestalt umgedichtet und verklärt; an diese poetische Gestalt knüpften Cimabue, Giotto und ihre Nachfolger an. Damit ist aber die aus diesem Beispiel zu ziehende Lehre noch nicht erschöpft. Ein Kunsthistoriker, der gerade den Einfluss des Franz auf die bildende Kunst zum Gegenstand eingehendster Studien gemacht hat, und diesen Einfluss jedenfalls eher zu überschätzen als zu unterschätzen geneigt sein muss, Professor Henry Thode, macht doch darauf aufmerksam, wie dieser Einfluss nur bis zu einem gewissen Grade gestaltend gewirkt hat; eine derartige religiöse Bewegung regt die schlummernden Tiefen der Persönlichkeit auf, bietet aber an und für sich dem Auge wenig Stoff und noch weniger Form; damit die bildende Kunst Italiens zu voller Kraft erwachsen konnte, musste ein neuer Impuls gegeben werden und das war das Werk der Dichter. 3) Dante ist es, der die Italiener gelehrt hat, zu gestalten; im Bunde mit ihm die gerade im 14. und 15. Jahrhundert wieder aufgefundene Poesie des Altertums. Man darf natürlich diese Einsicht nicht klein- lich auffassen; der Miniaturmaler des 10. Jahrhunderts mag sich — um frei erfinden zu dürfen — Vers für Vers an einen Psalm anschliessen, später wird ein derartiger Illustrator wenig geschätzt, man verlangt freiere Erfindung; auf jedem Kunstgebiet erwächst der Künstler zu immer grösserer Selbständigkeit; das Mass der Selbständigkeit wird aber durch den Entwicklungsgrad und die Kraft der allumfassenden Poesie bedingt. 1) Handbuch der Kunstgeschichte (1895), II, 76. 2) Richard Wagner: Entwürfe, Gedanken, Fragmente (1885), S. 19. 3) Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien 1885, S. 524 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 975. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/454>, abgerufen am 22.11.2024.