hat das entscheidende Wort gesprochen: "Musik muss Gestalt werden": die Möglichkeit hierzu fand sich erst bei den Germanen.
Wie nun der Germane es vollbrachte, aus der Musik eine Kunst -- seine Kunst -- zu machen, sie zu immer grösserer Selbständig- keit und Ausdrucksfähigkeit auszubilden, darüber muss der Leser sich durch Musikgeschichten belehren lassen. Doch, da wir hier darauf ausgehen, die Kunst als Ganzes zu betrachten, muss ich ihn auf einen grossen Übelstand aufmerksam machen. Da die Musik nämlich ihrem Wesen nach die Kundgebung des Unaussprechlichen ist, lässt sich wenig oder nichts über Musik "sprechen"; eine Musikgeschichte schrumpft darum immer in der Hauptsache zu einer Erörterung über technische Dinge zusammen. Bei den Geschichten der bildenden Künste ist dies viel weniger der Fall; Pläne, Photographien, Facsimiles geben uns eine unmittelbare Anschauung der Gegenstände; ausserdem enthalten die Handbücher der bildenden Künste nur soviel von dem Technischen, wie jeder intelligente Mensch sofort verstehen kann, wogegen musikalische Technik besondere Studien erheischt. Ähnlich ungünstig für die Musik fällt der Vergleich aus, wenn man eine Ge- schichte der Poesie zur Hand nimmt. Da erfährt man kaum, dass es überhaupt eine Technik giebt, ihre Besprechung bleibt auf den engsten Gelehrtenkreis beschränkt; die Geschichte der Poesie lernt man unmittelbar aus den Werken der Poesie selbst kennen. So werden uns denn die verschiedenen Zweige der Kunst in einer durchaus ver- schiedenen geschichtlichen Perspektive vorgeführt und das erschwert den Gesamtüberblick bedeutend. An uns liegt es also, unsere kunst- geschichtlichen Kenntnisse innerlich wieder zurechtzurücken; wozu die Erwägung nützlich sein wird, dass es gar keine Kunst giebt, bei welcher -- im lebendigen Werke -- die Technik so vollkommen gleichgültig ist, wie bei der Musik. Musikalische Theorie ist etwas durch- aus abstraktes, musikalische Instrumentaltechnik etwas rein mechanisches: beide laufen gewissermassen neben der Kunst her, stehen aber in keinem anderen Verhältnis zu ihr als Perspektivlehre und Pinselführung zum Gemälde. Was die Instrumentaltechnik anbelangt, so besteht sie lediglich aus einer Schulung bestimmter Hand- und Arm-, beziehungs- weise Gesichtsmuskeln, oder aus dem zweckmässigen Eindrillen der Stimmbänder; was ausserdem nötig ist -- intuitive Auffassung des von einem Anderen Empfundenen und Ausdruck -- lässt sich nicht lehren, und das eben ist Musik. Mit der Theorie steht es nicht anders: der genialste Musiker -- der ungarische Zigeuner -- weiss weder was
Kunst.
hat das entscheidende Wort gesprochen: »Musik muss Gestalt werden«: die Möglichkeit hierzu fand sich erst bei den Germanen.
Wie nun der Germane es vollbrachte, aus der Musik eine Kunst — seine Kunst — zu machen, sie zu immer grösserer Selbständig- keit und Ausdrucksfähigkeit auszubilden, darüber muss der Leser sich durch Musikgeschichten belehren lassen. Doch, da wir hier darauf ausgehen, die Kunst als Ganzes zu betrachten, muss ich ihn auf einen grossen Übelstand aufmerksam machen. Da die Musik nämlich ihrem Wesen nach die Kundgebung des Unaussprechlichen ist, lässt sich wenig oder nichts über Musik »sprechen«; eine Musikgeschichte schrumpft darum immer in der Hauptsache zu einer Erörterung über technische Dinge zusammen. Bei den Geschichten der bildenden Künste ist dies viel weniger der Fall; Pläne, Photographien, Facsimiles geben uns eine unmittelbare Anschauung der Gegenstände; ausserdem enthalten die Handbücher der bildenden Künste nur soviel von dem Technischen, wie jeder intelligente Mensch sofort verstehen kann, wogegen musikalische Technik besondere Studien erheischt. Ähnlich ungünstig für die Musik fällt der Vergleich aus, wenn man eine Ge- schichte der Poesie zur Hand nimmt. Da erfährt man kaum, dass es überhaupt eine Technik giebt, ihre Besprechung bleibt auf den engsten Gelehrtenkreis beschränkt; die Geschichte der Poesie lernt man unmittelbar aus den Werken der Poesie selbst kennen. So werden uns denn die verschiedenen Zweige der Kunst in einer durchaus ver- schiedenen geschichtlichen Perspektive vorgeführt und das erschwert den Gesamtüberblick bedeutend. An uns liegt es also, unsere kunst- geschichtlichen Kenntnisse innerlich wieder zurechtzurücken; wozu die Erwägung nützlich sein wird, dass es gar keine Kunst giebt, bei welcher — im lebendigen Werke — die Technik so vollkommen gleichgültig ist, wie bei der Musik. Musikalische Theorie ist etwas durch- aus abstraktes, musikalische Instrumentaltechnik etwas rein mechanisches: beide laufen gewissermassen neben der Kunst her, stehen aber in keinem anderen Verhältnis zu ihr als Perspektivlehre und Pinselführung zum Gemälde. Was die Instrumentaltechnik anbelangt, so besteht sie lediglich aus einer Schulung bestimmter Hand- und Arm-, beziehungs- weise Gesichtsmuskeln, oder aus dem zweckmässigen Eindrillen der Stimmbänder; was ausserdem nötig ist — intuitive Auffassung des von einem Anderen Empfundenen und Ausdruck — lässt sich nicht lehren, und das eben ist Musik. Mit der Theorie steht es nicht anders: der genialste Musiker — der ungarische Zigeuner — weiss weder was
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Kunst.
hat das entscheidende Wort gesprochen: »Musik muss Gestalt werden«:
die Möglichkeit hierzu fand sich erst bei den Germanen.
Wie nun der Germane es vollbrachte, aus der Musik eine Kunst
— seine Kunst — zu machen, sie zu immer grösserer Selbständig-
keit und Ausdrucksfähigkeit auszubilden, darüber muss der Leser sich
durch Musikgeschichten belehren lassen. Doch, da wir hier darauf
ausgehen, die Kunst als Ganzes zu betrachten, muss ich ihn auf einen
grossen Übelstand aufmerksam machen. Da die Musik nämlich ihrem
Wesen nach die Kundgebung des Unaussprechlichen ist, lässt sich
wenig oder nichts über Musik »sprechen«; eine Musikgeschichte
schrumpft darum immer in der Hauptsache zu einer Erörterung über
technische Dinge zusammen. Bei den Geschichten der bildenden
Künste ist dies viel weniger der Fall; Pläne, Photographien, Facsimiles
geben uns eine unmittelbare Anschauung der Gegenstände; ausserdem
enthalten die Handbücher der bildenden Künste nur soviel von dem
Technischen, wie jeder intelligente Mensch sofort verstehen kann,
wogegen musikalische Technik besondere Studien erheischt. Ähnlich
ungünstig für die Musik fällt der Vergleich aus, wenn man eine Ge-
schichte der Poesie zur Hand nimmt. Da erfährt man kaum, dass
es überhaupt eine Technik giebt, ihre Besprechung bleibt auf den
engsten Gelehrtenkreis beschränkt; die Geschichte der Poesie lernt
man unmittelbar aus den Werken der Poesie selbst kennen. So werden
uns denn die verschiedenen Zweige der Kunst in einer durchaus ver-
schiedenen geschichtlichen Perspektive vorgeführt und das erschwert
den Gesamtüberblick bedeutend. An uns liegt es also, unsere kunst-
geschichtlichen Kenntnisse innerlich wieder zurechtzurücken; wozu
die Erwägung nützlich sein wird, dass es gar keine Kunst giebt, bei
welcher — im lebendigen Werke — die Technik so vollkommen
gleichgültig ist, wie bei der Musik. Musikalische Theorie ist etwas durch-
aus abstraktes, musikalische Instrumentaltechnik etwas rein mechanisches:
beide laufen gewissermassen neben der Kunst her, stehen aber in
keinem anderen Verhältnis zu ihr als Perspektivlehre und Pinselführung
zum Gemälde. Was die Instrumentaltechnik anbelangt, so besteht sie
lediglich aus einer Schulung bestimmter Hand- und Arm-, beziehungs-
weise Gesichtsmuskeln, oder aus dem zweckmässigen Eindrillen der
Stimmbänder; was ausserdem nötig ist — intuitive Auffassung des
von einem Anderen Empfundenen und Ausdruck — lässt sich nicht
lehren, und das eben ist Musik. Mit der Theorie steht es nicht anders:
der genialste Musiker — der ungarische Zigeuner — weiss weder was
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 979. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/458>, abgerufen am 22.11.2024.
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