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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Handeln und Denken von Millionen von Einfluss gewesen ist. Sünden-
fall und Gnade sind aber so eng zusammengehörige Teile eines einzigen
Organismus, dass die leiseste Berührung des einen auf den anderen
wirkt und so wurde denn auch nach und nach die wahre Bedeutung
des Mythus vom Sündenfall derartig abgeschwächt, dass man heute
allgemein die Jesuiten als Semipelagianer bezeichnet, und dass sogar
sie selber ihre Lehre eine scientia media nennen.1) Sobald der Mythus
angetastet wird, gerät man ins Judentum.

Dass von Anfang an der Kampf noch heftiger um die Vor-
stellung der Gnade entbrennen musste, ist klar; denn der Sündenfall
fand sich wenigstens, wenn auch nur als unverstandener Mythus, in den
heiligen Büchern der Israeliten vor, wogegen die Gnade nirgends darin
zu finden ist und für ihre Religionsauffassung gänzlich sinnlos ist und
bleibt. Gleich unter den Aposteln loderte der Streit auf, und auch er
ist noch heute nicht geschlichtet. Gesetz oder Gnade: beides zugleich
konnte ebensowenig bestehen, wie der Mensch zur selben Zeit Gott und
dem Mammon dienen kann. "Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes;
denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus
vergeblich gestorben
" (Paulus an die Galater II, 21). Eine einzige
solche Stelle entscheidet; das Ausspielen anderer, angeblich "kanonischer"
Aussprüche gegen sie (z. B. der Epistel Fakobi II, 14, 24) ist kindisch;
handelt es sich doch nicht um theologische Wortklauberei, sondern um
eine der grossen Erfahrungsthatsachen des inneren Lebens bei uns Indo-
europäern. "Nur wen die Erlösung wählt, nur von dem wird sie em-
pfangen", heisst es in der Katha-Upanishad. Und welche Gabe ist es,
welche uns dieser metaphysische Mythus durch Gnade empfangen lässt?
Nach den Indoeraniern die Erkenntnis, nach den europäischen Christen
der Glaube: beides eine Wiedergeburt verbürgend, d. h. den Menschen
zu dem Bewusstsein eines andersgearteten Zuhammenhanges der Dinge
erweckend.2) Ich führe wieder jene Worte Christi an, denn es kann
nie zu häufig geschehen: "Das Himmelreich ist inwendig in euch".
Dies ist eine Erkenntnis oder ein Glaube, gewonnen durch göttliche
Gnade. Erlösung durch Erkenntnis, Erlösung durch Glauben: zwei

1) Nur einen einzigen, mässig und sicher urteilenden Zeugen will ich an-
rufen, Sainte-Beuve. Er schreibt (Port-Royal, Buch 4, Kap. 1): "Les Jesuites n'attes-
tent pas moins par leur methode d'education qu'ils sont semi-pelagiens tendant au Pela-
gianisme pur, que par leur doctrine directe
".
2) Vergl. S. 204 und 413 und den Abschnitt "Weltanschauung" im neunten
Kapitel.

Religion.
Handeln und Denken von Millionen von Einfluss gewesen ist. Sünden-
fall und Gnade sind aber so eng zusammengehörige Teile eines einzigen
Organismus, dass die leiseste Berührung des einen auf den anderen
wirkt und so wurde denn auch nach und nach die wahre Bedeutung
des Mythus vom Sündenfall derartig abgeschwächt, dass man heute
allgemein die Jesuiten als Semipelagianer bezeichnet, und dass sogar
sie selber ihre Lehre eine scientia media nennen.1) Sobald der Mythus
angetastet wird, gerät man ins Judentum.

Dass von Anfang an der Kampf noch heftiger um die Vor-
stellung der Gnade entbrennen musste, ist klar; denn der Sündenfall
fand sich wenigstens, wenn auch nur als unverstandener Mythus, in den
heiligen Büchern der Israeliten vor, wogegen die Gnade nirgends darin
zu finden ist und für ihre Religionsauffassung gänzlich sinnlos ist und
bleibt. Gleich unter den Aposteln loderte der Streit auf, und auch er
ist noch heute nicht geschlichtet. Gesetz oder Gnade: beides zugleich
konnte ebensowenig bestehen, wie der Mensch zur selben Zeit Gott und
dem Mammon dienen kann. »Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes;
denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus
vergeblich gestorben
« (Paulus an die Galater II, 21). Eine einzige
solche Stelle entscheidet; das Ausspielen anderer, angeblich »kanonischer«
Aussprüche gegen sie (z. B. der Epistel Fakobi II, 14, 24) ist kindisch;
handelt es sich doch nicht um theologische Wortklauberei, sondern um
eine der grossen Erfahrungsthatsachen des inneren Lebens bei uns Indo-
europäern. »Nur wen die Erlösung wählt, nur von dem wird sie em-
pfangen«, heisst es in der Kâtha-Upanishad. Und welche Gabe ist es,
welche uns dieser metaphysische Mythus durch Gnade empfangen lässt?
Nach den Indoeraniern die Erkenntnis, nach den europäischen Christen
der Glaube: beides eine Wiedergeburt verbürgend, d. h. den Menschen
zu dem Bewusstsein eines andersgearteten Zuhammenhanges der Dinge
erweckend.2) Ich führe wieder jene Worte Christi an, denn es kann
nie zu häufig geschehen: »Das Himmelreich ist inwendig in euch«.
Dies ist eine Erkenntnis oder ein Glaube, gewonnen durch göttliche
Gnade. Erlösung durch Erkenntnis, Erlösung durch Glauben: zwei

1) Nur einen einzigen, mässig und sicher urteilenden Zeugen will ich an-
rufen, Sainte-Beuve. Er schreibt (Port-Royal, Buch 4, Kap. 1): »Les Jésuites n’attes-
tent pas moins par leur méthode d’éducation qu’ils sont sémi-pélagiens tendant au Péla-
gianisme pur, que par leur doctrine directe
«.
2) Vergl. S. 204 und 413 und den Abschnitt »Weltanschauung« im neunten
Kapitel.
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[567/0046] Religion. Handeln und Denken von Millionen von Einfluss gewesen ist. Sünden- fall und Gnade sind aber so eng zusammengehörige Teile eines einzigen Organismus, dass die leiseste Berührung des einen auf den anderen wirkt und so wurde denn auch nach und nach die wahre Bedeutung des Mythus vom Sündenfall derartig abgeschwächt, dass man heute allgemein die Jesuiten als Semipelagianer bezeichnet, und dass sogar sie selber ihre Lehre eine scientia media nennen. 1) Sobald der Mythus angetastet wird, gerät man ins Judentum. Dass von Anfang an der Kampf noch heftiger um die Vor- stellung der Gnade entbrennen musste, ist klar; denn der Sündenfall fand sich wenigstens, wenn auch nur als unverstandener Mythus, in den heiligen Büchern der Israeliten vor, wogegen die Gnade nirgends darin zu finden ist und für ihre Religionsauffassung gänzlich sinnlos ist und bleibt. Gleich unter den Aposteln loderte der Streit auf, und auch er ist noch heute nicht geschlichtet. Gesetz oder Gnade: beides zugleich konnte ebensowenig bestehen, wie der Mensch zur selben Zeit Gott und dem Mammon dienen kann. »Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben« (Paulus an die Galater II, 21). Eine einzige solche Stelle entscheidet; das Ausspielen anderer, angeblich »kanonischer« Aussprüche gegen sie (z. B. der Epistel Fakobi II, 14, 24) ist kindisch; handelt es sich doch nicht um theologische Wortklauberei, sondern um eine der grossen Erfahrungsthatsachen des inneren Lebens bei uns Indo- europäern. »Nur wen die Erlösung wählt, nur von dem wird sie em- pfangen«, heisst es in der Kâtha-Upanishad. Und welche Gabe ist es, welche uns dieser metaphysische Mythus durch Gnade empfangen lässt? Nach den Indoeraniern die Erkenntnis, nach den europäischen Christen der Glaube: beides eine Wiedergeburt verbürgend, d. h. den Menschen zu dem Bewusstsein eines andersgearteten Zuhammenhanges der Dinge erweckend. 2) Ich führe wieder jene Worte Christi an, denn es kann nie zu häufig geschehen: »Das Himmelreich ist inwendig in euch«. Dies ist eine Erkenntnis oder ein Glaube, gewonnen durch göttliche Gnade. Erlösung durch Erkenntnis, Erlösung durch Glauben: zwei 1) Nur einen einzigen, mässig und sicher urteilenden Zeugen will ich an- rufen, Sainte-Beuve. Er schreibt (Port-Royal, Buch 4, Kap. 1): »Les Jésuites n’attes- tent pas moins par leur méthode d’éducation qu’ils sont sémi-pélagiens tendant au Péla- gianisme pur, que par leur doctrine directe«. 2) Vergl. S. 204 und 413 und den Abschnitt »Weltanschauung« im neunten Kapitel.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/46>, abgerufen am 21.11.2024.