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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Kunst.
offenbarer -- Musiker. Daher ist Shakespeare ein Tonkünstler von
unerschöpflichem Reichtum und Calderon in seiner Art nicht minder.
Gerade so wie der gelehrte musikalische Philolog Westphal bei Bach
und Beethoven die kompliziertesten Rhythmen hellenischen Strophen-
baues nachgewiesen hat, ebenso finden wir im spanischen Drama eine
Vorliebe für musikalisch verschlungene Linien, bisweilen möchte man
fast sagen, für kontrapunktische Kunststücke. Von Petrarca an bis
Byron beobachten wir ausserdem eine Neigung der lyrischen Poesie
zur immer weiteren Ausbildung des rein musikalischen Elementes,
welche gerade durch den gefühlten Mangel an Musik bedingt ist.
Über Goethe's lyrische Gedichte hat schon mehr als ein feinfühlender
Tonkünstler geurteilt, sie könnten nicht komponiert werden, denn sie
seien schon ganz Musik. In der That, wir befanden uns lange Zeit
in einer eigentümlichen Lage. Poesie und Musik sind von der Natur
zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt, und nun waren sie
gerade bei der musikalischesten Rasse der Erde geschieden! Zwar
wuchs der Tondichter in engster Anlehnung an Poesie immer mächtiger
heran, doch verstummte der Gesang des Wortdichters nach und nach,
zuletzt war sein Wort nur ein gedrucktes, das man still für sich lesen
soll; und so rettete sich der Wortdichter entweder zur Didaktik
und zu jenen umständlichen, unmöglichen Schilderungen von Dingen,
denen einzig die Musik gerecht werden kann, oder aber er verlegte
sein ganzes Bestreben darauf, ohne Musik doch Musik zu machen.
Besonders bemerkbar machte sich das Missverhältnis bei der drama-
tischen Kunst, jenem lebendigen Mittelpunkt aller Poesie. "Les poetes
dramatiques sont les poetes par excellence
", sagt Montesquieu;1) doch
diese waren des gewaltigsten dramatischen Ausdrucksmittels beraubt
und zwar gerade in dem Augenblick, wo es sich zu nie geahnter
Macht ausbildete. Herder hat das in ergreifend beredten Worten ge-
schildert: "Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musi-
kalische Stimmung des seinigen gewöhnt, müsste ein trauriges Spiel
in ihm finden. Wie wortreichstumm, würde er sagen, wie dumpf
und tonlos! Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit
und seufzet und poltert! bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge
an, raisonniert, deklamieret! Wird denn eure Stimme und Empfin-
dung nie Gesang? Vermisst ihr nie die Stärke dieses dämonischen
Ausdruckes? Laden euch eure Sylbenmasse, ladet euer Jambus euch

1) Lettres persanes, 137.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts.
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Kunst.
offenbarer — Musiker. Daher ist Shakespeare ein Tonkünstler von
unerschöpflichem Reichtum und Calderon in seiner Art nicht minder.
Gerade so wie der gelehrte musikalische Philolog Westphal bei Bach
und Beethoven die kompliziertesten Rhythmen hellenischen Strophen-
baues nachgewiesen hat, ebenso finden wir im spanischen Drama eine
Vorliebe für musikalisch verschlungene Linien, bisweilen möchte man
fast sagen, für kontrapunktische Kunststücke. Von Petrarca an bis
Byron beobachten wir ausserdem eine Neigung der lyrischen Poesie
zur immer weiteren Ausbildung des rein musikalischen Elementes,
welche gerade durch den gefühlten Mangel an Musik bedingt ist.
Über Goethe’s lyrische Gedichte hat schon mehr als ein feinfühlender
Tonkünstler geurteilt, sie könnten nicht komponiert werden, denn sie
seien schon ganz Musik. In der That, wir befanden uns lange Zeit
in einer eigentümlichen Lage. Poesie und Musik sind von der Natur
zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt, und nun waren sie
gerade bei der musikalischesten Rasse der Erde geschieden! Zwar
wuchs der Tondichter in engster Anlehnung an Poesie immer mächtiger
heran, doch verstummte der Gesang des Wortdichters nach und nach,
zuletzt war sein Wort nur ein gedrucktes, das man still für sich lesen
soll; und so rettete sich der Wortdichter entweder zur Didaktik
und zu jenen umständlichen, unmöglichen Schilderungen von Dingen,
denen einzig die Musik gerecht werden kann, oder aber er verlegte
sein ganzes Bestreben darauf, ohne Musik doch Musik zu machen.
Besonders bemerkbar machte sich das Missverhältnis bei der drama-
tischen Kunst, jenem lebendigen Mittelpunkt aller Poesie. «Les poètes
dramatiques sont les poètes par excellence
», sagt Montesquieu;1) doch
diese waren des gewaltigsten dramatischen Ausdrucksmittels beraubt
und zwar gerade in dem Augenblick, wo es sich zu nie geahnter
Macht ausbildete. Herder hat das in ergreifend beredten Worten ge-
schildert: »Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musi-
kalische Stimmung des seinigen gewöhnt, müsste ein trauriges Spiel
in ihm finden. Wie wortreichstumm, würde er sagen, wie dumpf
und tonlos! Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit
und seufzet und poltert! bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge
an, raisonniert, deklamieret! Wird denn eure Stimme und Empfin-
dung nie Gesang? Vermisst ihr nie die Stärke dieses dämonischen
Ausdruckes? Laden euch eure Sylbenmasse, ladet euer Jambus euch

1) Lettres persanes, 137.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts.
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[985/0464] Kunst. offenbarer — Musiker. Daher ist Shakespeare ein Tonkünstler von unerschöpflichem Reichtum und Calderon in seiner Art nicht minder. Gerade so wie der gelehrte musikalische Philolog Westphal bei Bach und Beethoven die kompliziertesten Rhythmen hellenischen Strophen- baues nachgewiesen hat, ebenso finden wir im spanischen Drama eine Vorliebe für musikalisch verschlungene Linien, bisweilen möchte man fast sagen, für kontrapunktische Kunststücke. Von Petrarca an bis Byron beobachten wir ausserdem eine Neigung der lyrischen Poesie zur immer weiteren Ausbildung des rein musikalischen Elementes, welche gerade durch den gefühlten Mangel an Musik bedingt ist. Über Goethe’s lyrische Gedichte hat schon mehr als ein feinfühlender Tonkünstler geurteilt, sie könnten nicht komponiert werden, denn sie seien schon ganz Musik. In der That, wir befanden uns lange Zeit in einer eigentümlichen Lage. Poesie und Musik sind von der Natur zu einer und ebenderselben Kunst bestimmt, und nun waren sie gerade bei der musikalischesten Rasse der Erde geschieden! Zwar wuchs der Tondichter in engster Anlehnung an Poesie immer mächtiger heran, doch verstummte der Gesang des Wortdichters nach und nach, zuletzt war sein Wort nur ein gedrucktes, das man still für sich lesen soll; und so rettete sich der Wortdichter entweder zur Didaktik und zu jenen umständlichen, unmöglichen Schilderungen von Dingen, denen einzig die Musik gerecht werden kann, oder aber er verlegte sein ganzes Bestreben darauf, ohne Musik doch Musik zu machen. Besonders bemerkbar machte sich das Missverhältnis bei der drama- tischen Kunst, jenem lebendigen Mittelpunkt aller Poesie. «Les poètes dramatiques sont les poètes par excellence», sagt Montesquieu; 1) doch diese waren des gewaltigsten dramatischen Ausdrucksmittels beraubt und zwar gerade in dem Augenblick, wo es sich zu nie geahnter Macht ausbildete. Herder hat das in ergreifend beredten Worten ge- schildert: »Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musi- kalische Stimmung des seinigen gewöhnt, müsste ein trauriges Spiel in ihm finden. Wie wortreichstumm, würde er sagen, wie dumpf und tonlos! Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit und seufzet und poltert! bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge an, raisonniert, deklamieret! Wird denn eure Stimme und Empfin- dung nie Gesang? Vermisst ihr nie die Stärke dieses dämonischen Ausdruckes? Laden euch eure Sylbenmasse, ladet euer Jambus euch 1) Lettres persanes, 137. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 63

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 985. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/464>, abgerufen am 22.11.2024.