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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
hätte so erzittert; mancher Mensch hätte Ebenmass und Aufbau be-
wundern können, ohne dass ein Schauer des Gefühles ihn wie Ewig-
keitsahnung durchbebt hätte; er hätte eben das Werk nur "betrachtet".
Gelingt es aber dem Künstler wirklich, durch die Betrachtung Gefühle
zu erregen, durch Form Leben zu spenden, wie hoch müssen wir
da nicht die Bedeutung der Form anschlagen! In einem gewissen
Sinne dürfen wir ohne weiteres sagen: Kunst ist Gestalt. Und nennt
Goethe die Kunst "eine Vermittlerin des Unaussprechlichen", so fügen
wir als Kommentar hinzu: nur das Gesprochene vermittelt das Unaus-
sprechliche, nur das Geschaute das Unsichtbare. Gerade dieses Ge-
sprochene und dieses sichtbar Gestaltete -- nicht das, was unaussprech-
bar und unsichtbar bleibt -- macht Kunst aus; nicht der Ausdruck
ist Kunst, sondern das, was den Ausdruck vermittelt. Woraus erhellt,
dass keine Frage in Bezug auf Kunst wichtiger ist, als die nach ihrem
"Äusseren", d. h. nach dem Prinzip ihrer Gestaltung.

Hier liegt nun die Sache bedeutend einfacher als bei der voran-
gegangenen Betrachtung; denn jenes "Musikalische" betrifft ein Un-
aussprechliches, es zielt auf den "Zustand" des Künstlers (wie Schiller
sagen würde), auf das innerste Wesen seiner Persönlichkeit, und zeigt
an, welche Eigenschaften man besitzen müsse, um sein Werk nicht
allein zu betrachten, sondern auch zu erleben, und über das alles
ist es schwer, sich deutlich mitzuteilen; hier dagegen handelt es sich
um die sichtbare Gestalt. Ich glaube, wir können uns sehr kurz fassen
und dürfen die apodiktische Behauptung aufstellen: echte germanische
Kunst ist naturalistisch; wo sie es nicht ist, ist sie durch äussere
Einflüsse aus ihrem eigenen, geraden, in den Rassenanlagen deutlich
vorgezeichneten Wege hinausgedrängt worden. Wir sahen ja oben
(S. 786), dass unsere Wissenschaft "naturalistisch" ist und sich hier-
durch wesentlich von der hellenischen, anthropomorphisch-abstrakten
Wissenschaft unterscheidet. Hier ist der Schluss aus Analogie durch-
aus statthaft, denn wir schliessen von uns auf uns, und wir haben ja
dieselbe Anlage unseres Geistes auf weit von einander abliegenden
Gebieten wiedergefunden. Ich verweise namentlich auf die zweite
Hälfte des Abschnittes über Weltanschauung. Das einmütige Bestreben
unserer grössten Denker ging darauf hinaus, die sichtbare Natur von
allen jenen Schranken und Deutungen zu befreien, mit welchen mensch-
licher Aberglaube, menschliche Furcht und Hoffnung, menschlich
blinde Logik und Systematomanie sie mehr als mannshoch eingezäunt
hatten. Auf der anderen Seite fanden wir Liebe zur Natur, treues

Die Entstehung einer neuen Welt.
hätte so erzittert; mancher Mensch hätte Ebenmass und Aufbau be-
wundern können, ohne dass ein Schauer des Gefühles ihn wie Ewig-
keitsahnung durchbebt hätte; er hätte eben das Werk nur »betrachtet«.
Gelingt es aber dem Künstler wirklich, durch die Betrachtung Gefühle
zu erregen, durch Form Leben zu spenden, wie hoch müssen wir
da nicht die Bedeutung der Form anschlagen! In einem gewissen
Sinne dürfen wir ohne weiteres sagen: Kunst ist Gestalt. Und nennt
Goethe die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«, so fügen
wir als Kommentar hinzu: nur das Gesprochene vermittelt das Unaus-
sprechliche, nur das Geschaute das Unsichtbare. Gerade dieses Ge-
sprochene und dieses sichtbar Gestaltete — nicht das, was unaussprech-
bar und unsichtbar bleibt — macht Kunst aus; nicht der Ausdruck
ist Kunst, sondern das, was den Ausdruck vermittelt. Woraus erhellt,
dass keine Frage in Bezug auf Kunst wichtiger ist, als die nach ihrem
»Äusseren«, d. h. nach dem Prinzip ihrer Gestaltung.

Hier liegt nun die Sache bedeutend einfacher als bei der voran-
gegangenen Betrachtung; denn jenes »Musikalische« betrifft ein Un-
aussprechliches, es zielt auf den »Zustand« des Künstlers (wie Schiller
sagen würde), auf das innerste Wesen seiner Persönlichkeit, und zeigt
an, welche Eigenschaften man besitzen müsse, um sein Werk nicht
allein zu betrachten, sondern auch zu erleben, und über das alles
ist es schwer, sich deutlich mitzuteilen; hier dagegen handelt es sich
um die sichtbare Gestalt. Ich glaube, wir können uns sehr kurz fassen
und dürfen die apodiktische Behauptung aufstellen: echte germanische
Kunst ist naturalistisch; wo sie es nicht ist, ist sie durch äussere
Einflüsse aus ihrem eigenen, geraden, in den Rassenanlagen deutlich
vorgezeichneten Wege hinausgedrängt worden. Wir sahen ja oben
(S. 786), dass unsere Wissenschaft »naturalistisch« ist und sich hier-
durch wesentlich von der hellenischen, anthropomorphisch-abstrakten
Wissenschaft unterscheidet. Hier ist der Schluss aus Analogie durch-
aus statthaft, denn wir schliessen von uns auf uns, und wir haben ja
dieselbe Anlage unseres Geistes auf weit von einander abliegenden
Gebieten wiedergefunden. Ich verweise namentlich auf die zweite
Hälfte des Abschnittes über Weltanschauung. Das einmütige Bestreben
unserer grössten Denker ging darauf hinaus, die sichtbare Natur von
allen jenen Schranken und Deutungen zu befreien, mit welchen mensch-
licher Aberglaube, menschliche Furcht und Hoffnung, menschlich
blinde Logik und Systematomanie sie mehr als mannshoch eingezäunt
hatten. Auf der anderen Seite fanden wir Liebe zur Natur, treues

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[990/0469] Die Entstehung einer neuen Welt. hätte so erzittert; mancher Mensch hätte Ebenmass und Aufbau be- wundern können, ohne dass ein Schauer des Gefühles ihn wie Ewig- keitsahnung durchbebt hätte; er hätte eben das Werk nur »betrachtet«. Gelingt es aber dem Künstler wirklich, durch die Betrachtung Gefühle zu erregen, durch Form Leben zu spenden, wie hoch müssen wir da nicht die Bedeutung der Form anschlagen! In einem gewissen Sinne dürfen wir ohne weiteres sagen: Kunst ist Gestalt. Und nennt Goethe die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«, so fügen wir als Kommentar hinzu: nur das Gesprochene vermittelt das Unaus- sprechliche, nur das Geschaute das Unsichtbare. Gerade dieses Ge- sprochene und dieses sichtbar Gestaltete — nicht das, was unaussprech- bar und unsichtbar bleibt — macht Kunst aus; nicht der Ausdruck ist Kunst, sondern das, was den Ausdruck vermittelt. Woraus erhellt, dass keine Frage in Bezug auf Kunst wichtiger ist, als die nach ihrem »Äusseren«, d. h. nach dem Prinzip ihrer Gestaltung. Hier liegt nun die Sache bedeutend einfacher als bei der voran- gegangenen Betrachtung; denn jenes »Musikalische« betrifft ein Un- aussprechliches, es zielt auf den »Zustand« des Künstlers (wie Schiller sagen würde), auf das innerste Wesen seiner Persönlichkeit, und zeigt an, welche Eigenschaften man besitzen müsse, um sein Werk nicht allein zu betrachten, sondern auch zu erleben, und über das alles ist es schwer, sich deutlich mitzuteilen; hier dagegen handelt es sich um die sichtbare Gestalt. Ich glaube, wir können uns sehr kurz fassen und dürfen die apodiktische Behauptung aufstellen: echte germanische Kunst ist naturalistisch; wo sie es nicht ist, ist sie durch äussere Einflüsse aus ihrem eigenen, geraden, in den Rassenanlagen deutlich vorgezeichneten Wege hinausgedrängt worden. Wir sahen ja oben (S. 786), dass unsere Wissenschaft »naturalistisch« ist und sich hier- durch wesentlich von der hellenischen, anthropomorphisch-abstrakten Wissenschaft unterscheidet. Hier ist der Schluss aus Analogie durch- aus statthaft, denn wir schliessen von uns auf uns, und wir haben ja dieselbe Anlage unseres Geistes auf weit von einander abliegenden Gebieten wiedergefunden. Ich verweise namentlich auf die zweite Hälfte des Abschnittes über Weltanschauung. Das einmütige Bestreben unserer grössten Denker ging darauf hinaus, die sichtbare Natur von allen jenen Schranken und Deutungen zu befreien, mit welchen mensch- licher Aberglaube, menschliche Furcht und Hoffnung, menschlich blinde Logik und Systematomanie sie mehr als mannshoch eingezäunt hatten. Auf der anderen Seite fanden wir Liebe zur Natur, treues

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 990. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/469>, abgerufen am 22.11.2024.