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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt
zu erfassen wünscht, wird gut daran thun, den griechischen Künstler
nicht willkürlich aus seiner geistigen Umgebung loszutrennen, sondern
immer wieder die griechische Naturwissenschaft und Philosophie zum
Vergleich heranzuziehen und sie kritisch zu betrachten. Dann wird
er erkennen, dass jenes Mass, welches wir an den Gebilden helle-
nischer Schöpferkraft bewundern, aus einer angeborenen Beschränkung --
nicht Beschränktheit, aber Beschränkung -- hervorgeht, nicht etwa als
ein besonderes, rein künstlerisches Gesetz, sondern als ein durch die
ganze Natur dieser Individualität Bedingtes. Das klare Auge des
Hellenen versagt, sobald der Blick über den Kreis des im engeren
Sinne des Wortes Menschlichen hinüberirrt. Seine Naturforscher sind
nicht treue Beobachter, und sie entdecken trotz der grossen Begabung
gar nichts -- was zuerst sehr auffällt, jedoch leicht erklärlich ist, da
Entdeckung immer nur durch Hingabe an die Natur, niemals durch
eigene menschliche Kraft erfolgt (S. 760 fg.).1) Hier also finden wir eine
klare, scharfe Grenze nach unten zu: nur was im Menschen selbst
liegt -- Mathematik und Logik -- konnte sich den Hellenen als echte
Wissenschaft erschliessen; hier leisteten sie denn auch Bewunderns-
wertes. Nach oben zu ist die Grenze ebenso sichtbar. Ihr Philosoph
verschliesst sich von vornherein gegen alles, was ein Goethe "über-
natürlich" nennen würde und was dieser in Faust's Gang zu den
Müttern und in dessen Himmelfahrt poetisch dargestellt hat. Auf der
einen Seite finden wir den streng logischen Rationalismus des Aristoteles,
auf der anderen die pythagoreisch-platonische, poetische Mathematik.
Plato's Ideen, wie ich schon früher bemerkt habe (S. 795), sind durch-
aus real, ja, konkret. Der tiefe Blick nach innen, in jene andere,
"übernatürliche" Natur -- der Blick in das, worüber der Inder als
Atman sann, in das, was jedem ersten besten unserer Mystiker als
"das Reich der Gnade" vertraut war, und was Kant das Reich der
Freiheit nannte -- der blieb den Hellenen durchaus versagt. Dies die
scharfe Grenze nach oben. Was bleibt, ist der Mensch, der sinnlich
wahrgenommene Mensch, und alles das, was dieser Mensch von seinem
ausschliesslich und beschränkt menschlichen Standpunkt aus wahrnimmt.
So war jenes Volk beschaffen, welches hellenische Kunst hervorbrachte.

1) So hatte Aristoteles z. B. bemerkt, dass in einem dichten Walde der
Sonnenschein runde Lichtflecken wirft; anstatt aber sich durch kindlich einfache
Beobachtung zu überzeugen, dass diese Flecken Sonnenbilder und daher rund seien,
konstruierte er sofort eine haarsträubend komplizierte, tadellos logische und absurd
falsche Theorie, die bis auf Kepler für unanfechtbare Wahrheit galt.

Die Entstehung einer neuen Welt
zu erfassen wünscht, wird gut daran thun, den griechischen Künstler
nicht willkürlich aus seiner geistigen Umgebung loszutrennen, sondern
immer wieder die griechische Naturwissenschaft und Philosophie zum
Vergleich heranzuziehen und sie kritisch zu betrachten. Dann wird
er erkennen, dass jenes Mass, welches wir an den Gebilden helle-
nischer Schöpferkraft bewundern, aus einer angeborenen Beschränkung —
nicht Beschränktheit, aber Beschränkung — hervorgeht, nicht etwa als
ein besonderes, rein künstlerisches Gesetz, sondern als ein durch die
ganze Natur dieser Individualität Bedingtes. Das klare Auge des
Hellenen versagt, sobald der Blick über den Kreis des im engeren
Sinne des Wortes Menschlichen hinüberirrt. Seine Naturforscher sind
nicht treue Beobachter, und sie entdecken trotz der grossen Begabung
gar nichts — was zuerst sehr auffällt, jedoch leicht erklärlich ist, da
Entdeckung immer nur durch Hingabe an die Natur, niemals durch
eigene menschliche Kraft erfolgt (S. 760 fg.).1) Hier also finden wir eine
klare, scharfe Grenze nach unten zu: nur was im Menschen selbst
liegt — Mathematik und Logik — konnte sich den Hellenen als echte
Wissenschaft erschliessen; hier leisteten sie denn auch Bewunderns-
wertes. Nach oben zu ist die Grenze ebenso sichtbar. Ihr Philosoph
verschliesst sich von vornherein gegen alles, was ein Goethe ȟber-
natürlich« nennen würde und was dieser in Faust’s Gang zu den
Müttern und in dessen Himmelfahrt poetisch dargestellt hat. Auf der
einen Seite finden wir den streng logischen Rationalismus des Aristoteles,
auf der anderen die pythagoreisch-platonische, poetische Mathematik.
Plato’s Ideen, wie ich schon früher bemerkt habe (S. 795), sind durch-
aus real, ja, konkret. Der tiefe Blick nach innen, in jene andere,
»übernatürliche« Natur — der Blick in das, worüber der Inder als
Âtman sann, in das, was jedem ersten besten unserer Mystiker als
»das Reich der Gnade« vertraut war, und was Kant das Reich der
Freiheit nannte — der blieb den Hellenen durchaus versagt. Dies die
scharfe Grenze nach oben. Was bleibt, ist der Mensch, der sinnlich
wahrgenommene Mensch, und alles das, was dieser Mensch von seinem
ausschliesslich und beschränkt menschlichen Standpunkt aus wahrnimmt.
So war jenes Volk beschaffen, welches hellenische Kunst hervorbrachte.

1) So hatte Aristoteles z. B. bemerkt, dass in einem dichten Walde der
Sonnenschein runde Lichtflecken wirft; anstatt aber sich durch kindlich einfache
Beobachtung zu überzeugen, dass diese Flecken Sonnenbilder und daher rund seien,
konstruierte er sofort eine haarsträubend komplizierte, tadellos logische und absurd
falsche Theorie, die bis auf Kepler für unanfechtbare Wahrheit galt.
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[996/0475] Die Entstehung einer neuen Welt zu erfassen wünscht, wird gut daran thun, den griechischen Künstler nicht willkürlich aus seiner geistigen Umgebung loszutrennen, sondern immer wieder die griechische Naturwissenschaft und Philosophie zum Vergleich heranzuziehen und sie kritisch zu betrachten. Dann wird er erkennen, dass jenes Mass, welches wir an den Gebilden helle- nischer Schöpferkraft bewundern, aus einer angeborenen Beschränkung — nicht Beschränktheit, aber Beschränkung — hervorgeht, nicht etwa als ein besonderes, rein künstlerisches Gesetz, sondern als ein durch die ganze Natur dieser Individualität Bedingtes. Das klare Auge des Hellenen versagt, sobald der Blick über den Kreis des im engeren Sinne des Wortes Menschlichen hinüberirrt. Seine Naturforscher sind nicht treue Beobachter, und sie entdecken trotz der grossen Begabung gar nichts — was zuerst sehr auffällt, jedoch leicht erklärlich ist, da Entdeckung immer nur durch Hingabe an die Natur, niemals durch eigene menschliche Kraft erfolgt (S. 760 fg.). 1) Hier also finden wir eine klare, scharfe Grenze nach unten zu: nur was im Menschen selbst liegt — Mathematik und Logik — konnte sich den Hellenen als echte Wissenschaft erschliessen; hier leisteten sie denn auch Bewunderns- wertes. Nach oben zu ist die Grenze ebenso sichtbar. Ihr Philosoph verschliesst sich von vornherein gegen alles, was ein Goethe »über- natürlich« nennen würde und was dieser in Faust’s Gang zu den Müttern und in dessen Himmelfahrt poetisch dargestellt hat. Auf der einen Seite finden wir den streng logischen Rationalismus des Aristoteles, auf der anderen die pythagoreisch-platonische, poetische Mathematik. Plato’s Ideen, wie ich schon früher bemerkt habe (S. 795), sind durch- aus real, ja, konkret. Der tiefe Blick nach innen, in jene andere, »übernatürliche« Natur — der Blick in das, worüber der Inder als Âtman sann, in das, was jedem ersten besten unserer Mystiker als »das Reich der Gnade« vertraut war, und was Kant das Reich der Freiheit nannte — der blieb den Hellenen durchaus versagt. Dies die scharfe Grenze nach oben. Was bleibt, ist der Mensch, der sinnlich wahrgenommene Mensch, und alles das, was dieser Mensch von seinem ausschliesslich und beschränkt menschlichen Standpunkt aus wahrnimmt. So war jenes Volk beschaffen, welches hellenische Kunst hervorbrachte. 1) So hatte Aristoteles z. B. bemerkt, dass in einem dichten Walde der Sonnenschein runde Lichtflecken wirft; anstatt aber sich durch kindlich einfache Beobachtung zu überzeugen, dass diese Flecken Sonnenbilder und daher rund seien, konstruierte er sofort eine haarsträubend komplizierte, tadellos logische und absurd falsche Theorie, die bis auf Kepler für unanfechtbare Wahrheit galt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 996. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/475>, abgerufen am 22.11.2024.