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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
d. h. schon ihrem Stoffe nach -- übernatürlich ist; das Übernatürliche
an den Werken der anderen Künste darf darum (vom künstlerischen
Standpunkt aus) als ein Musikalisches bezeichnet werden. Diese beiden
Richtungen, oder Eigenschaften, oder Instinkte, oder wie man sie
nennen will -- das Musikalische einerseits, das Naturalistische andrer-
seits -- sind nun, wie meine bisherigen Ausführungen gezeigt haben,
die beiden Grundkräfte unseres ganzen künstlerischen Schaffens; sie
widersprechen sich nicht, wie oberflächliche Geister zu wähnen pflegen,
im Gegenteil, sie ergänzen sich, und gerade aus dem Beisammensein
solcher gegensätzlichen und doch in engster Korrelation stehenden
Triebe besteht Individualität.1) Der Mann, der den einen abgerissenen
Mandelkrähenflügel so minutiös malt, als ginge es um sein Seelenheil,
ist derselbe, der Ritter, Tod und Teufel konzipiert. Doch ist es
ohne Weiteres klar, dass aus dieser Beschaffenheit unseres Geistes sich
ein reiches inneres Leben widerstreitender oder auch in den ver-
schiedensten Kombinationen sich vereinigender Kräfte ergeben musste.
Die musikalische Befähigung trug uns wie auf Engelsschwingen in
Regionen hinauf, wohin noch kein menschliches Sehnen jemals hin-
gelangt war. Der Naturalismus war ein Rettungsanker, ohne den
unsere Kunst sich bald in Phantasterei, Allegorien, Ideenkryptographie
verloren hätte. Man wäre fast geneigt, auf den lebensvollen Anta-
gonismus und die um so reichere Kraft der vereinigten Patrizier und
Plebejer in Rom hinzuweisen (siehe S. 126).

Shakespeare
und
Beethoven.

Diese Betrachtungsweise, die ich hier nicht näher ausführen
kann, empfehle ich der Beachtung: sie enthält, glaube ich, die
ganze Geschichte unserer echten, lebendigen Kunst.2) Nur an zwei
Beispielen will ich den soeben genannten Kampf zwischen den
beiden Prinzipien der Gestaltung in seinem Wesen und in seinen
Folgen exemplifizieren. Wenn der starke naturalistische Trieb unsere
Dichtkunst nicht von der Musik losgerissen hätte, hätten wir nie

1) Vergl. S. 724. So sehen wir z. B. die bildende Kunst der Griechen zwischen
dem Typischen und dem Realistischen pendeln, während die unsere das ganze
Bereich vom Phantastischen bis zum streng Naturgetreuen durchschweift.
2) Seitdem Obiges geschrieben wurde, ist Henry Thode's Schrift Die deutsche
bildende Kunst
(in Hans Meyer's Deutsches Volkstum) erschienen und ich freue mich
zu sehen, dass Gelehrter und Ungelehrter -- trotz aller Abweichung, welche Stoff
und Behandlungsart bedingen -- im Wesentlichen vollkommen zusammentreffen.
Ich habe jetzt den Vorzug, für alles Nähere auf Thode verweisen zu können
(wenigstens insofern rein deutsche Kunst in Betracht kommt, welche aber als
Paradigma für alle germanische Kunst gelten kann).

Die Entstehung einer neuen Welt.
d. h. schon ihrem Stoffe nach — übernatürlich ist; das Übernatürliche
an den Werken der anderen Künste darf darum (vom künstlerischen
Standpunkt aus) als ein Musikalisches bezeichnet werden. Diese beiden
Richtungen, oder Eigenschaften, oder Instinkte, oder wie man sie
nennen will — das Musikalische einerseits, das Naturalistische andrer-
seits — sind nun, wie meine bisherigen Ausführungen gezeigt haben,
die beiden Grundkräfte unseres ganzen künstlerischen Schaffens; sie
widersprechen sich nicht, wie oberflächliche Geister zu wähnen pflegen,
im Gegenteil, sie ergänzen sich, und gerade aus dem Beisammensein
solcher gegensätzlichen und doch in engster Korrelation stehenden
Triebe besteht Individualität.1) Der Mann, der den einen abgerissenen
Mandelkrähenflügel so minutiös malt, als ginge es um sein Seelenheil,
ist derselbe, der Ritter, Tod und Teufel konzipiert. Doch ist es
ohne Weiteres klar, dass aus dieser Beschaffenheit unseres Geistes sich
ein reiches inneres Leben widerstreitender oder auch in den ver-
schiedensten Kombinationen sich vereinigender Kräfte ergeben musste.
Die musikalische Befähigung trug uns wie auf Engelsschwingen in
Regionen hinauf, wohin noch kein menschliches Sehnen jemals hin-
gelangt war. Der Naturalismus war ein Rettungsanker, ohne den
unsere Kunst sich bald in Phantasterei, Allegorien, Ideenkryptographie
verloren hätte. Man wäre fast geneigt, auf den lebensvollen Anta-
gonismus und die um so reichere Kraft der vereinigten Patrizier und
Plebejer in Rom hinzuweisen (siehe S. 126).

Shakespeare
und
Beethoven.

Diese Betrachtungsweise, die ich hier nicht näher ausführen
kann, empfehle ich der Beachtung: sie enthält, glaube ich, die
ganze Geschichte unserer echten, lebendigen Kunst.2) Nur an zwei
Beispielen will ich den soeben genannten Kampf zwischen den
beiden Prinzipien der Gestaltung in seinem Wesen und in seinen
Folgen exemplifizieren. Wenn der starke naturalistische Trieb unsere
Dichtkunst nicht von der Musik losgerissen hätte, hätten wir nie

1) Vergl. S. 724. So sehen wir z. B. die bildende Kunst der Griechen zwischen
dem Typischen und dem Realistischen pendeln, während die unsere das ganze
Bereich vom Phantastischen bis zum streng Naturgetreuen durchschweift.
2) Seitdem Obiges geschrieben wurde, ist Henry Thode’s Schrift Die deutsche
bildende Kunst
(in Hans Meyer’s Deutsches Volkstum) erschienen und ich freue mich
zu sehen, dass Gelehrter und Ungelehrter — trotz aller Abweichung, welche Stoff
und Behandlungsart bedingen — im Wesentlichen vollkommen zusammentreffen.
Ich habe jetzt den Vorzug, für alles Nähere auf Thode verweisen zu können
(wenigstens insofern rein deutsche Kunst in Betracht kommt, welche aber als
Paradigma für alle germanische Kunst gelten kann).
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[998/0477] Die Entstehung einer neuen Welt. d. h. schon ihrem Stoffe nach — übernatürlich ist; das Übernatürliche an den Werken der anderen Künste darf darum (vom künstlerischen Standpunkt aus) als ein Musikalisches bezeichnet werden. Diese beiden Richtungen, oder Eigenschaften, oder Instinkte, oder wie man sie nennen will — das Musikalische einerseits, das Naturalistische andrer- seits — sind nun, wie meine bisherigen Ausführungen gezeigt haben, die beiden Grundkräfte unseres ganzen künstlerischen Schaffens; sie widersprechen sich nicht, wie oberflächliche Geister zu wähnen pflegen, im Gegenteil, sie ergänzen sich, und gerade aus dem Beisammensein solcher gegensätzlichen und doch in engster Korrelation stehenden Triebe besteht Individualität. 1) Der Mann, der den einen abgerissenen Mandelkrähenflügel so minutiös malt, als ginge es um sein Seelenheil, ist derselbe, der Ritter, Tod und Teufel konzipiert. Doch ist es ohne Weiteres klar, dass aus dieser Beschaffenheit unseres Geistes sich ein reiches inneres Leben widerstreitender oder auch in den ver- schiedensten Kombinationen sich vereinigender Kräfte ergeben musste. Die musikalische Befähigung trug uns wie auf Engelsschwingen in Regionen hinauf, wohin noch kein menschliches Sehnen jemals hin- gelangt war. Der Naturalismus war ein Rettungsanker, ohne den unsere Kunst sich bald in Phantasterei, Allegorien, Ideenkryptographie verloren hätte. Man wäre fast geneigt, auf den lebensvollen Anta- gonismus und die um so reichere Kraft der vereinigten Patrizier und Plebejer in Rom hinzuweisen (siehe S. 126). Diese Betrachtungsweise, die ich hier nicht näher ausführen kann, empfehle ich der Beachtung: sie enthält, glaube ich, die ganze Geschichte unserer echten, lebendigen Kunst. 2) Nur an zwei Beispielen will ich den soeben genannten Kampf zwischen den beiden Prinzipien der Gestaltung in seinem Wesen und in seinen Folgen exemplifizieren. Wenn der starke naturalistische Trieb unsere Dichtkunst nicht von der Musik losgerissen hätte, hätten wir nie 1) Vergl. S. 724. So sehen wir z. B. die bildende Kunst der Griechen zwischen dem Typischen und dem Realistischen pendeln, während die unsere das ganze Bereich vom Phantastischen bis zum streng Naturgetreuen durchschweift. 2) Seitdem Obiges geschrieben wurde, ist Henry Thode’s Schrift Die deutsche bildende Kunst (in Hans Meyer’s Deutsches Volkstum) erschienen und ich freue mich zu sehen, dass Gelehrter und Ungelehrter — trotz aller Abweichung, welche Stoff und Behandlungsart bedingen — im Wesentlichen vollkommen zusammentreffen. Ich habe jetzt den Vorzug, für alles Nähere auf Thode verweisen zu können (wenigstens insofern rein deutsche Kunst in Betracht kommt, welche aber als Paradigma für alle germanische Kunst gelten kann).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 998. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/477>, abgerufen am 16.06.2024.