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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
meinen kleben und vermag es nie, sich bis zur Freiheit durchzuringen.
Diese "gemeinen" Menschen brauchten einen Herrn, der zu ihnen wie
zu Knechten redete, nach dem Muster des jüdischen Jahve: ein Amt,
welches die mit römischer Imperialvollmacht ausgestattete Kirche über-
nahm. Kunst, Mythologie und Metaphysik waren in ihrer schöpferischen
Bedeutung für die damaligen Menschen völlig unbegreiflich geworden;
das Wesen der Religion musste in Folge dessen auf das Niveau herunter-
geschraubt werden, auf dem es sich in Judäa befunden hatte. Diese
Menschen brauchten eine rein geschichtliche, beweisbare Religion, welche
weder in Vergangenheit noch Zukunft, am allerwenigsten in der Gegen-
wart für Zweifel und Unerforschliches Raum liess: das leistete einzig
die Judenbibel. Die Antriebe mussten der Sinnenwelt entnommen sein:
körperliche Schmerzen allein konnten diese Menschen von Frevelthaten
abhalten, Verheissungen eines sorglosen Wohlergehens allein sie zu
guten Werken antreiben. Das war ja das religiöse System der jüdischen
Hierokratie (vergl. S. 426). Fortan entschied das vom Judentum über-
nommene und weiter ausgebildete System der kirchlichen Befehle
autoritativ über alle Dinge, gleichviel ob unbegreifliche Mysterien oder
handgreifliche Geschichtsthatsachen (resp. Geschichtslügen). Die im
Judentum präformierte, doch nie zur erträumten vollen Machtentfaltung
gelangte Intoleranz,1) ward das Grundprinzip des christlichen Ver-
haltens, und zwar als eine logisch unabweisliche Konsequenz aus den
soeben genannten Prämissen: ist die Religion eine Weltchronik, ist
ihr Moralprinzip ein gerichtlich-historisches, giebt es eine geschichtlich
begründete Instanz zur Entscheidung jedes Zweifels, jeder Frage, so
ist jegliche Abweichung von der Lehre ein Vergehen gegen die Wahr-
haftigkeit und gefährdet das rein materiell gedachte Heil der Menschen;
und so greift denn die kirchliche Justiz ein und vertilgt den Ungläubigen
oder Irrgläubigen, genau so wie die Juden jeden nicht streng Orthodoxen
gesteinigt hatten.

Ich hoffe, diese Andeutungen werden genügen, um die lebhafte
Vorstellung und zugleich die Überzeugung wachzurufen, dass that-
sächlich das Christentum als religiöses Gebäude auf zwei grundver-
schiedenen, meistens direkt feindlichen Weltanschauungen ruht: auf
jüdischem historisch-chronistischem Glauben und auf indoeuropäischer
symbolischer und metaphysischer Mythologie (wie ich das auf S. 550

1) Dieser Traum hat seinen vollkommensten Ausdruck in dem Roman Esther
gefunden.

Der Kampf.
meinen kleben und vermag es nie, sich bis zur Freiheit durchzuringen.
Diese »gemeinen« Menschen brauchten einen Herrn, der zu ihnen wie
zu Knechten redete, nach dem Muster des jüdischen Jahve: ein Amt,
welches die mit römischer Imperialvollmacht ausgestattete Kirche über-
nahm. Kunst, Mythologie und Metaphysik waren in ihrer schöpferischen
Bedeutung für die damaligen Menschen völlig unbegreiflich geworden;
das Wesen der Religion musste in Folge dessen auf das Niveau herunter-
geschraubt werden, auf dem es sich in Judäa befunden hatte. Diese
Menschen brauchten eine rein geschichtliche, beweisbare Religion, welche
weder in Vergangenheit noch Zukunft, am allerwenigsten in der Gegen-
wart für Zweifel und Unerforschliches Raum liess: das leistete einzig
die Judenbibel. Die Antriebe mussten der Sinnenwelt entnommen sein:
körperliche Schmerzen allein konnten diese Menschen von Frevelthaten
abhalten, Verheissungen eines sorglosen Wohlergehens allein sie zu
guten Werken antreiben. Das war ja das religiöse System der jüdischen
Hierokratie (vergl. S. 426). Fortan entschied das vom Judentum über-
nommene und weiter ausgebildete System der kirchlichen Befehle
autoritativ über alle Dinge, gleichviel ob unbegreifliche Mysterien oder
handgreifliche Geschichtsthatsachen (resp. Geschichtslügen). Die im
Judentum präformierte, doch nie zur erträumten vollen Machtentfaltung
gelangte Intoleranz,1) ward das Grundprinzip des christlichen Ver-
haltens, und zwar als eine logisch unabweisliche Konsequenz aus den
soeben genannten Prämissen: ist die Religion eine Weltchronik, ist
ihr Moralprinzip ein gerichtlich-historisches, giebt es eine geschichtlich
begründete Instanz zur Entscheidung jedes Zweifels, jeder Frage, so
ist jegliche Abweichung von der Lehre ein Vergehen gegen die Wahr-
haftigkeit und gefährdet das rein materiell gedachte Heil der Menschen;
und so greift denn die kirchliche Justiz ein und vertilgt den Ungläubigen
oder Irrgläubigen, genau so wie die Juden jeden nicht streng Orthodoxen
gesteinigt hatten.

Ich hoffe, diese Andeutungen werden genügen, um die lebhafte
Vorstellung und zugleich die Überzeugung wachzurufen, dass that-
sächlich das Christentum als religiöses Gebäude auf zwei grundver-
schiedenen, meistens direkt feindlichen Weltanschauungen ruht: auf
jüdischem historisch-chronistischem Glauben und auf indoeuropäischer
symbolischer und metaphysischer Mythologie (wie ich das auf S. 550

1) Dieser Traum hat seinen vollkommensten Ausdruck in dem Roman Esther
gefunden.
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[576/0055] Der Kampf. meinen kleben und vermag es nie, sich bis zur Freiheit durchzuringen. Diese »gemeinen« Menschen brauchten einen Herrn, der zu ihnen wie zu Knechten redete, nach dem Muster des jüdischen Jahve: ein Amt, welches die mit römischer Imperialvollmacht ausgestattete Kirche über- nahm. Kunst, Mythologie und Metaphysik waren in ihrer schöpferischen Bedeutung für die damaligen Menschen völlig unbegreiflich geworden; das Wesen der Religion musste in Folge dessen auf das Niveau herunter- geschraubt werden, auf dem es sich in Judäa befunden hatte. Diese Menschen brauchten eine rein geschichtliche, beweisbare Religion, welche weder in Vergangenheit noch Zukunft, am allerwenigsten in der Gegen- wart für Zweifel und Unerforschliches Raum liess: das leistete einzig die Judenbibel. Die Antriebe mussten der Sinnenwelt entnommen sein: körperliche Schmerzen allein konnten diese Menschen von Frevelthaten abhalten, Verheissungen eines sorglosen Wohlergehens allein sie zu guten Werken antreiben. Das war ja das religiöse System der jüdischen Hierokratie (vergl. S. 426). Fortan entschied das vom Judentum über- nommene und weiter ausgebildete System der kirchlichen Befehle autoritativ über alle Dinge, gleichviel ob unbegreifliche Mysterien oder handgreifliche Geschichtsthatsachen (resp. Geschichtslügen). Die im Judentum präformierte, doch nie zur erträumten vollen Machtentfaltung gelangte Intoleranz, 1) ward das Grundprinzip des christlichen Ver- haltens, und zwar als eine logisch unabweisliche Konsequenz aus den soeben genannten Prämissen: ist die Religion eine Weltchronik, ist ihr Moralprinzip ein gerichtlich-historisches, giebt es eine geschichtlich begründete Instanz zur Entscheidung jedes Zweifels, jeder Frage, so ist jegliche Abweichung von der Lehre ein Vergehen gegen die Wahr- haftigkeit und gefährdet das rein materiell gedachte Heil der Menschen; und so greift denn die kirchliche Justiz ein und vertilgt den Ungläubigen oder Irrgläubigen, genau so wie die Juden jeden nicht streng Orthodoxen gesteinigt hatten. Ich hoffe, diese Andeutungen werden genügen, um die lebhafte Vorstellung und zugleich die Überzeugung wachzurufen, dass that- sächlich das Christentum als religiöses Gebäude auf zwei grundver- schiedenen, meistens direkt feindlichen Weltanschauungen ruht: auf jüdischem historisch-chronistischem Glauben und auf indoeuropäischer symbolischer und metaphysischer Mythologie (wie ich das auf S. 550 1) Dieser Traum hat seinen vollkommensten Ausdruck in dem Roman Esther gefunden.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/55>, abgerufen am 09.11.2024.