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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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eines festen Glaubensgebäudes, selbst auf Kosten der eigenen Über-
zeugungen, selbst wenn die Architektur im Vergleich zu den Ahnungen
des tiefen Gemütes recht rauh ausfällt, gleichviel, wenn nur die arme
chaotische Menschheit einen sicheren, wankenlosen Halt, die verirrten
Schafe eine Hürde bekommen.

In zwei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Paulus und Augu-
stinus tritt natürlich das Zwitterwesen des Christentums sehr verschieden
zu Tage. Bei Paulus ist alles positiv, alles bejahend; er hat keine un-
wandelbare theoretische "Theologie",1) sondern er ist ein Zeitgenosse
Jesu Christi, dessen göttliche Gegenwart ihn mit Flammen des Lebens
verzehrt. Solange er gegen Christus war, kannte er keine Ruhe, bis er
den letzten seiner Anhänger vertilgt haben würde; sobald er Christum
als den Erlöser erkannt hatte, galt sein Leben einzig der Verbreitung der
"guten Kunde" über die ganze ihm erreichbare Welt; eine Zeit des
Herumtappens, des Erforschens, der Unschlüssigkeit gab es in seinem
Leben nicht. Muss er disputieren, so malt er einige Thesen an den
Himmel hin, von weitem sichtbar; muss er widersprechen, so geschieht
es durch ein Paar Keulenschläge, gleich lodert aber die Liebe wieder auf
und er ist, wie sein eigener Sinnspruch es besagt, "Jedermann allerlei",
unbekümmert ob er zum Juden so, zum Griechen anders, zum Kelten
wieder anders reden muss, wenn er nur "Etliche gewinnt".2) Wie
tief auch, bis in die dunkelsten Regionen des Menschenherzens, die
Worte gerade dieses einen Apostels leuchten, es ist nie eine Spur von
mühsamem Konstruieren, von Spintisieren darin, sondern das, was er

1) Diese Behauptung wird vielfachem Widerspruch begegnen; ich will damit
aber nur sagen, dass Paulus seine systematischen Ideen vielmehr als dialektische
Waffen zur Überzeugung seiner Hörer gebraucht, als dass er bestrebt zu sein schiene,
ein zusammenhängendes, allein gültiges und neues theologisches Gebäude zu er-
richten. Selbst Edouard Reuss, welcher in seinem unvergänglichen Werk: Histoire
de la Theologie Chretienne au siecle apostolique
(3e ed.), dem Apostel ein durchaus be-
stimmtes, einheitliches System vindiziert, giebt doch am Schlusse desselben zu (II, 580),
dass die eigentliche Theologie gerade bei Paulus (und für Paulus) ein unterge-
ordnetes Element bildete, und S. 73 führt er aus, die Absicht des Paulus gehe so
ganz auf das populäre und praktische Wirken, dass er überall, wo Fragen theoretisch-
theologisch zu werden beginnen, das metaphysische Gebiet verlasse, um auf das
ethische überzugehen.
2) Man muss die ganze Stelle lesen I. Cor. IX, 19 fg., will man einsehen,
wie genau der Apostel die spätere Formel extra ecclesiam nulla salus im Voraus
Lügen straft. Vergleiche auch den Brief an die Philipper I, 18: "Dass nur Christus
verkündiget werde allerlei Weise; es geschehe zufallens oder rechter Weise; so
freue ich mich doch darinnen, und will mich auch freuen".
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eines festen Glaubensgebäudes, selbst auf Kosten der eigenen Über-
zeugungen, selbst wenn die Architektur im Vergleich zu den Ahnungen
des tiefen Gemütes recht rauh ausfällt, gleichviel, wenn nur die arme
chaotische Menschheit einen sicheren, wankenlosen Halt, die verirrten
Schafe eine Hürde bekommen.

In zwei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Paulus und Augu-
stinus tritt natürlich das Zwitterwesen des Christentums sehr verschieden
zu Tage. Bei Paulus ist alles positiv, alles bejahend; er hat keine un-
wandelbare theoretische »Theologie«,1) sondern er ist ein Zeitgenosse
Jesu Christi, dessen göttliche Gegenwart ihn mit Flammen des Lebens
verzehrt. Solange er gegen Christus war, kannte er keine Ruhe, bis er
den letzten seiner Anhänger vertilgt haben würde; sobald er Christum
als den Erlöser erkannt hatte, galt sein Leben einzig der Verbreitung der
»guten Kunde« über die ganze ihm erreichbare Welt; eine Zeit des
Herumtappens, des Erforschens, der Unschlüssigkeit gab es in seinem
Leben nicht. Muss er disputieren, so malt er einige Thesen an den
Himmel hin, von weitem sichtbar; muss er widersprechen, so geschieht
es durch ein Paar Keulenschläge, gleich lodert aber die Liebe wieder auf
und er ist, wie sein eigener Sinnspruch es besagt, »Jedermann allerlei«,
unbekümmert ob er zum Juden so, zum Griechen anders, zum Kelten
wieder anders reden muss, wenn er nur »Etliche gewinnt«.2) Wie
tief auch, bis in die dunkelsten Regionen des Menschenherzens, die
Worte gerade dieses einen Apostels leuchten, es ist nie eine Spur von
mühsamem Konstruieren, von Spintisieren darin, sondern das, was er

1) Diese Behauptung wird vielfachem Widerspruch begegnen; ich will damit
aber nur sagen, dass Paulus seine systematischen Ideen vielmehr als dialektische
Waffen zur Überzeugung seiner Hörer gebraucht, als dass er bestrebt zu sein schiene,
ein zusammenhängendes, allein gültiges und neues theologisches Gebäude zu er-
richten. Selbst Edouard Reuss, welcher in seinem unvergänglichen Werk: Histoire
de la Théologie Chrétienne au siècle apostolique
(3e éd.), dem Apostel ein durchaus be-
stimmtes, einheitliches System vindiziert, giebt doch am Schlusse desselben zu (II, 580),
dass die eigentliche Theologie gerade bei Paulus (und für Paulus) ein unterge-
ordnetes Element bildete, und S. 73 führt er aus, die Absicht des Paulus gehe so
ganz auf das populäre und praktische Wirken, dass er überall, wo Fragen theoretisch-
theologisch zu werden beginnen, das metaphysische Gebiet verlasse, um auf das
ethische überzugehen.
2) Man muss die ganze Stelle lesen I. Cor. IX, 19 fg., will man einsehen,
wie genau der Apostel die spätere Formel extra ecclesiam nulla salus im Voraus
Lügen straft. Vergleiche auch den Brief an die Philipper I, 18: »Dass nur Christus
verkündiget werde allerlei Weise; es geschehe zufallens oder rechter Weise; so
freue ich mich doch darinnen, und will mich auch freuen«.
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[579/0058] Religion. eines festen Glaubensgebäudes, selbst auf Kosten der eigenen Über- zeugungen, selbst wenn die Architektur im Vergleich zu den Ahnungen des tiefen Gemütes recht rauh ausfällt, gleichviel, wenn nur die arme chaotische Menschheit einen sicheren, wankenlosen Halt, die verirrten Schafe eine Hürde bekommen. In zwei so verschiedenen Persönlichkeiten wie Paulus und Augu- stinus tritt natürlich das Zwitterwesen des Christentums sehr verschieden zu Tage. Bei Paulus ist alles positiv, alles bejahend; er hat keine un- wandelbare theoretische »Theologie«, 1) sondern er ist ein Zeitgenosse Jesu Christi, dessen göttliche Gegenwart ihn mit Flammen des Lebens verzehrt. Solange er gegen Christus war, kannte er keine Ruhe, bis er den letzten seiner Anhänger vertilgt haben würde; sobald er Christum als den Erlöser erkannt hatte, galt sein Leben einzig der Verbreitung der »guten Kunde« über die ganze ihm erreichbare Welt; eine Zeit des Herumtappens, des Erforschens, der Unschlüssigkeit gab es in seinem Leben nicht. Muss er disputieren, so malt er einige Thesen an den Himmel hin, von weitem sichtbar; muss er widersprechen, so geschieht es durch ein Paar Keulenschläge, gleich lodert aber die Liebe wieder auf und er ist, wie sein eigener Sinnspruch es besagt, »Jedermann allerlei«, unbekümmert ob er zum Juden so, zum Griechen anders, zum Kelten wieder anders reden muss, wenn er nur »Etliche gewinnt«. 2) Wie tief auch, bis in die dunkelsten Regionen des Menschenherzens, die Worte gerade dieses einen Apostels leuchten, es ist nie eine Spur von mühsamem Konstruieren, von Spintisieren darin, sondern das, was er 1) Diese Behauptung wird vielfachem Widerspruch begegnen; ich will damit aber nur sagen, dass Paulus seine systematischen Ideen vielmehr als dialektische Waffen zur Überzeugung seiner Hörer gebraucht, als dass er bestrebt zu sein schiene, ein zusammenhängendes, allein gültiges und neues theologisches Gebäude zu er- richten. Selbst Edouard Reuss, welcher in seinem unvergänglichen Werk: Histoire de la Théologie Chrétienne au siècle apostolique (3e éd.), dem Apostel ein durchaus be- stimmtes, einheitliches System vindiziert, giebt doch am Schlusse desselben zu (II, 580), dass die eigentliche Theologie gerade bei Paulus (und für Paulus) ein unterge- ordnetes Element bildete, und S. 73 führt er aus, die Absicht des Paulus gehe so ganz auf das populäre und praktische Wirken, dass er überall, wo Fragen theoretisch- theologisch zu werden beginnen, das metaphysische Gebiet verlasse, um auf das ethische überzugehen. 2) Man muss die ganze Stelle lesen I. Cor. IX, 19 fg., will man einsehen, wie genau der Apostel die spätere Formel extra ecclesiam nulla salus im Voraus Lügen straft. Vergleiche auch den Brief an die Philipper I, 18: »Dass nur Christus verkündiget werde allerlei Weise; es geschehe zufallens oder rechter Weise; so freue ich mich doch darinnen, und will mich auch freuen«. 37*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/58>, abgerufen am 26.11.2024.