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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
deutung der Religion im Menschenleben ist Paulus so unjüdisch, dass
er das Epitheton antijüdisch verdient; das Jüdische an ihm ist zum
grössten Teile lediglich Schale, es treten darin lediglich die unausrott-
baren Angewohnheiten des intellektuellen Mechanismus zu Tage. Im
Herzen ist Paulus nicht Rationalist, sondern Mystiker. Mystik ist
Mythologie zurückgedeutet aus den symbolischen Bildern in die innere
Erfahrung des Unaussprechbaren, eine Erfahrung, die inzwischen an
Intensität zugenommen und über ihre eigene Innerlichkeit sich klarer
geworden ist. Die wahre Religion des Paulus ist nicht das Fürwahr-
halten einer angeblichen Chronik der Weltgeschichte, sondern sie ist
mythisch-metaphysische Erkenntnis. Solche Dinge wie die Unter-
scheidung zwischen einem äusseren und einem inneren Menschen,
zwischen Fleisch und Geist: "ich elender Mensch, wer wird mich er-
lösen von dem Leibe dieses Todes?", die vielen Aussprüche wie
folgender: "Wir sind alle Ein Leib in Christo" u. s. w., alles das deutet
auf eine transscendente Anschauung. Noch deutlicher jedoch tritt die
indoeuropäische Geistesrichtung zu Tage, wenn man die grossen zu
Grunde liegenden Überzeugungen überblickt. Da finden wir als Kern
(siehe S. 559) die Vorstellung der Erlösung; das Bedürfnis nach ihr
wird durch die angeborene, unbeschränkt allgemeine Sündhaftigkeit
(nicht durch Gesetzesübertretungen und daraus folgendes Schuldgefühl)
hervorgerufen; bewirkt wird die Erlösung durch die den Glauben
schenkende göttliche Gnade (nicht durch Werke und heiliges Leben).
Und was ist diese Erlösung? Sie ist "Wiedergeburt", oder, wie Christus
sich ausdrückt, "Umkehr".1) Es wäre unmöglich, eine religiöse An-

1) Als Anmerkung einige Belegstellen für den in der Schrift wenig Belesenen.
Die Erlösung bildet den Gegenstand aller paulinischen Epistel. Die Allgemeinheit der
Sünde wird durch die Herbeiziehung des Mythus vom Sündenfall und durch ihre
(unjüdische) Deutung implicite zugegeben, ausserdem finden wir aber solche Stellen
wie Römer XI, 32: "Gott hat alle Menschen unter den Ungehorsam beschlossen"
und noch charakteristischer Epheser II, 3: "Wir alle sind von Natur Kinder des
Zornes". Über die Gnade ist vielleicht die entscheidendste Stelle folgende: "Denn
Gott ist es, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach
seinem Wohlgefallen" (Philipper II, 13). Über die Bedeutung des Glaubens im
Gegensatze zum Verdienst der guten Werke, findet man zahlreiche Stellen, denn
dies ist der Grundpfeiler der Religion des Paulus, hier -- und hier vielleicht allein --
ist kein Schatten eines Widerspruches; der Apostel lehrt die reine indische Lehre.
Man sehe namentlich Römer III, 27--28, V, 1, die ganzen Kapitel IX und X, eben-
falls den ganzen Brief an die Galater u. s. w. Als Beispiele: "So halten wir es
nun, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch
den Glauben
" (Röm. III, 28). "Wir wissen, dass der Mensch durch des Gesetzes

Der Kampf.
deutung der Religion im Menschenleben ist Paulus so unjüdisch, dass
er das Epitheton antijüdisch verdient; das Jüdische an ihm ist zum
grössten Teile lediglich Schale, es treten darin lediglich die unausrott-
baren Angewohnheiten des intellektuellen Mechanismus zu Tage. Im
Herzen ist Paulus nicht Rationalist, sondern Mystiker. Mystik ist
Mythologie zurückgedeutet aus den symbolischen Bildern in die innere
Erfahrung des Unaussprechbaren, eine Erfahrung, die inzwischen an
Intensität zugenommen und über ihre eigene Innerlichkeit sich klarer
geworden ist. Die wahre Religion des Paulus ist nicht das Fürwahr-
halten einer angeblichen Chronik der Weltgeschichte, sondern sie ist
mythisch-metaphysische Erkenntnis. Solche Dinge wie die Unter-
scheidung zwischen einem äusseren und einem inneren Menschen,
zwischen Fleisch und Geist: »ich elender Mensch, wer wird mich er-
lösen von dem Leibe dieses Todes?«, die vielen Aussprüche wie
folgender: »Wir sind alle Ein Leib in Christo« u. s. w., alles das deutet
auf eine transscendente Anschauung. Noch deutlicher jedoch tritt die
indoeuropäische Geistesrichtung zu Tage, wenn man die grossen zu
Grunde liegenden Überzeugungen überblickt. Da finden wir als Kern
(siehe S. 559) die Vorstellung der Erlösung; das Bedürfnis nach ihr
wird durch die angeborene, unbeschränkt allgemeine Sündhaftigkeit
(nicht durch Gesetzesübertretungen und daraus folgendes Schuldgefühl)
hervorgerufen; bewirkt wird die Erlösung durch die den Glauben
schenkende göttliche Gnade (nicht durch Werke und heiliges Leben).
Und was ist diese Erlösung? Sie ist »Wiedergeburt«, oder, wie Christus
sich ausdrückt, »Umkehr«.1) Es wäre unmöglich, eine religiöse An-

1) Als Anmerkung einige Belegstellen für den in der Schrift wenig Belesenen.
Die Erlösung bildet den Gegenstand aller paulinischen Epistel. Die Allgemeinheit der
Sünde wird durch die Herbeiziehung des Mythus vom Sündenfall und durch ihre
(unjüdische) Deutung implicite zugegeben, ausserdem finden wir aber solche Stellen
wie Römer XI, 32: »Gott hat alle Menschen unter den Ungehorsam beschlossen«
und noch charakteristischer Epheser II, 3: »Wir alle sind von Natur Kinder des
Zornes«. Über die Gnade ist vielleicht die entscheidendste Stelle folgende: »Denn
Gott ist es, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach
seinem Wohlgefallen« (Philipper II, 13). Über die Bedeutung des Glaubens im
Gegensatze zum Verdienst der guten Werke, findet man zahlreiche Stellen, denn
dies ist der Grundpfeiler der Religion des Paulus, hier — und hier vielleicht allein —
ist kein Schatten eines Widerspruches; der Apostel lehrt die reine indische Lehre.
Man sehe namentlich Römer III, 27—28, V, 1, die ganzen Kapitel IX und X, eben-
falls den ganzen Brief an die Galater u. s. w. Als Beispiele: »So halten wir es
nun, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch
den Glauben
« (Röm. III, 28). »Wir wissen, dass der Mensch durch des Gesetzes
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[584/0063] Der Kampf. deutung der Religion im Menschenleben ist Paulus so unjüdisch, dass er das Epitheton antijüdisch verdient; das Jüdische an ihm ist zum grössten Teile lediglich Schale, es treten darin lediglich die unausrott- baren Angewohnheiten des intellektuellen Mechanismus zu Tage. Im Herzen ist Paulus nicht Rationalist, sondern Mystiker. Mystik ist Mythologie zurückgedeutet aus den symbolischen Bildern in die innere Erfahrung des Unaussprechbaren, eine Erfahrung, die inzwischen an Intensität zugenommen und über ihre eigene Innerlichkeit sich klarer geworden ist. Die wahre Religion des Paulus ist nicht das Fürwahr- halten einer angeblichen Chronik der Weltgeschichte, sondern sie ist mythisch-metaphysische Erkenntnis. Solche Dinge wie die Unter- scheidung zwischen einem äusseren und einem inneren Menschen, zwischen Fleisch und Geist: »ich elender Mensch, wer wird mich er- lösen von dem Leibe dieses Todes?«, die vielen Aussprüche wie folgender: »Wir sind alle Ein Leib in Christo« u. s. w., alles das deutet auf eine transscendente Anschauung. Noch deutlicher jedoch tritt die indoeuropäische Geistesrichtung zu Tage, wenn man die grossen zu Grunde liegenden Überzeugungen überblickt. Da finden wir als Kern (siehe S. 559) die Vorstellung der Erlösung; das Bedürfnis nach ihr wird durch die angeborene, unbeschränkt allgemeine Sündhaftigkeit (nicht durch Gesetzesübertretungen und daraus folgendes Schuldgefühl) hervorgerufen; bewirkt wird die Erlösung durch die den Glauben schenkende göttliche Gnade (nicht durch Werke und heiliges Leben). Und was ist diese Erlösung? Sie ist »Wiedergeburt«, oder, wie Christus sich ausdrückt, »Umkehr«. 1) Es wäre unmöglich, eine religiöse An- 1) Als Anmerkung einige Belegstellen für den in der Schrift wenig Belesenen. Die Erlösung bildet den Gegenstand aller paulinischen Epistel. Die Allgemeinheit der Sünde wird durch die Herbeiziehung des Mythus vom Sündenfall und durch ihre (unjüdische) Deutung implicite zugegeben, ausserdem finden wir aber solche Stellen wie Römer XI, 32: »Gott hat alle Menschen unter den Ungehorsam beschlossen« und noch charakteristischer Epheser II, 3: »Wir alle sind von Natur Kinder des Zornes«. Über die Gnade ist vielleicht die entscheidendste Stelle folgende: »Denn Gott ist es, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen« (Philipper II, 13). Über die Bedeutung des Glaubens im Gegensatze zum Verdienst der guten Werke, findet man zahlreiche Stellen, denn dies ist der Grundpfeiler der Religion des Paulus, hier — und hier vielleicht allein — ist kein Schatten eines Widerspruches; der Apostel lehrt die reine indische Lehre. Man sehe namentlich Römer III, 27—28, V, 1, die ganzen Kapitel IX und X, eben- falls den ganzen Brief an die Galater u. s. w. Als Beispiele: »So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Röm. III, 28). »Wir wissen, dass der Mensch durch des Gesetzes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/63>, abgerufen am 26.11.2024.