Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Der Kampf. wir in diesem Falle selbst einen Martin Luther rechnen -- die gor-dischen Knoten, die hier vorliegen (und es sind ihrer mehrere), lassen sich nicht lösen, sondern nur zerhauen: entweder man ist für Paulus oder man ist gegen ihn, und entweder man ist für die dogmatisch- chronistische pharisäische Theologie des einen Paulus, oder man glaubt mit jenem anderen Paulus an eine transscendente Wahrheit hinter dem "rätselhaften Spiegelbilde" des empirischen Scheines. Und nur in diesem letzteren Falle versteht man ihn, wenn er (wie Christus) von dem "Ge- heimnis" redet, nicht von einer Rechtfertigung (wie die Juden), sondern von dem Geheimnis der "Verwandlung" (I. Cor. XV, 51). Man begreift auch diese Verwandlung als etwas nicht Künftiges, sondern Zeitloses, d. h. Gegenwärtiges: "ihr seid selig geworden; er hat uns in das himmlische Wesen versetzt -- -- --" (Eph. II, 5, 6). Und "müssen wir menschlich davon reden, um der Schwachheit willen unseres Fleisches" (Röm. VI, 19), müssen wir mit Worten von jenem Ge- heimnis reden, das kein Wort erreicht, das wir wohl in Jesus Christus erblicken, doch nicht denken und darum nicht aussprechen können -- nun so reden wir von Erbsünde, von Gnade, von Erlösung durch Wiedergeburt, und das alles fassen wir mit Paulus als Glauben zu- sammen. Lassen wir also selbst die abweichenden Lehren anderer Apostel bei Seite, sehen wir ab von den späteren Accrescenzen zur kirchlichen Lehre aus Mythologie, Metaphysik und Superstition, und halten wir uns an Paulus allein, so zünden wir einen unausgleichbaren Kampf im eigenen Herzen an, sobald wir uns dazu zwingen wollen, die beiden Religionslehren des Apostels für gleichberechtigt zu erachten. Dies ist der Kampf, in welchem sich das Christentum vom ersten 1) Wobei ich nicht übersehe, dass die Arianer sich auf die ziemlich dunkle
Stelle in dem Brief an die Philipper (dessen Authenticität allerdings stark bezweifelt wird) Kap. II, Vers 6 berufen. Der Kampf. wir in diesem Falle selbst einen Martin Luther rechnen — die gor-dischen Knoten, die hier vorliegen (und es sind ihrer mehrere), lassen sich nicht lösen, sondern nur zerhauen: entweder man ist für Paulus oder man ist gegen ihn, und entweder man ist für die dogmatisch- chronistische pharisäische Theologie des einen Paulus, oder man glaubt mit jenem anderen Paulus an eine transscendente Wahrheit hinter dem »rätselhaften Spiegelbilde« des empirischen Scheines. Und nur in diesem letzteren Falle versteht man ihn, wenn er (wie Christus) von dem »Ge- heimnis« redet, nicht von einer Rechtfertigung (wie die Juden), sondern von dem Geheimnis der »Verwandlung« (I. Cor. XV, 51). Man begreift auch diese Verwandlung als etwas nicht Künftiges, sondern Zeitloses, d. h. Gegenwärtiges: »ihr seid selig geworden; er hat uns in das himmlische Wesen versetzt — — —« (Eph. II, 5, 6). Und »müssen wir menschlich davon reden, um der Schwachheit willen unseres Fleisches« (Röm. VI, 19), müssen wir mit Worten von jenem Ge- heimnis reden, das kein Wort erreicht, das wir wohl in Jesus Christus erblicken, doch nicht denken und darum nicht aussprechen können — nun so reden wir von Erbsünde, von Gnade, von Erlösung durch Wiedergeburt, und das alles fassen wir mit Paulus als Glauben zu- sammen. Lassen wir also selbst die abweichenden Lehren anderer Apostel bei Seite, sehen wir ab von den späteren Accrescenzen zur kirchlichen Lehre aus Mythologie, Metaphysik und Superstition, und halten wir uns an Paulus allein, so zünden wir einen unausgleichbaren Kampf im eigenen Herzen an, sobald wir uns dazu zwingen wollen, die beiden Religionslehren des Apostels für gleichberechtigt zu erachten. Dies ist der Kampf, in welchem sich das Christentum vom ersten 1) Wobei ich nicht übersehe, dass die Arianer sich auf die ziemlich dunkle
Stelle in dem Brief an die Philipper (dessen Authenticität allerdings stark bezweifelt wird) Kap. II, Vers 6 berufen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0069" n="590"/><fw place="top" type="header">Der Kampf.</fw><lb/> wir in diesem Falle selbst einen Martin Luther rechnen — die gor-<lb/> dischen Knoten, die hier vorliegen (und es sind ihrer mehrere), lassen<lb/> sich nicht lösen, sondern nur zerhauen: entweder man ist für Paulus<lb/> oder man ist gegen ihn, und entweder man ist für die dogmatisch-<lb/> chronistische pharisäische Theologie des einen Paulus, oder man glaubt<lb/> mit jenem anderen Paulus an eine transscendente Wahrheit hinter dem<lb/> »rätselhaften Spiegelbilde« des empirischen Scheines. Und nur in diesem<lb/> letzteren Falle versteht man ihn, wenn er (wie Christus) von dem »Ge-<lb/> heimnis« redet, nicht von einer Rechtfertigung (wie die Juden), sondern<lb/> von dem Geheimnis der »Verwandlung« (<hi rendition="#i">I. Cor.</hi> XV, 51). Man begreift<lb/> auch diese Verwandlung als etwas nicht Künftiges, sondern Zeitloses,<lb/> d. h. Gegenwärtiges: »ihr <hi rendition="#g">seid</hi> selig geworden; er <hi rendition="#g">hat</hi> uns in das<lb/> himmlische Wesen versetzt — — —« (<hi rendition="#i">Eph.</hi> II, 5, 6). Und »müssen<lb/> wir menschlich davon reden, um der Schwachheit willen unseres<lb/> Fleisches« (<hi rendition="#i">Röm.</hi> VI, 19), müssen wir mit Worten von jenem Ge-<lb/> heimnis reden, das kein Wort erreicht, das wir wohl in Jesus Christus<lb/> erblicken, doch nicht denken und darum nicht aussprechen können —<lb/> nun so reden wir von Erbsünde, von Gnade, von Erlösung durch<lb/> Wiedergeburt, und das alles fassen wir mit Paulus als Glauben zu-<lb/> sammen. Lassen wir also selbst die abweichenden Lehren anderer<lb/> Apostel bei Seite, sehen wir ab von den späteren Accrescenzen zur<lb/> kirchlichen Lehre aus Mythologie, Metaphysik und Superstition, und<lb/> halten wir uns an Paulus allein, so zünden wir einen unausgleichbaren<lb/> Kampf im eigenen Herzen an, sobald wir uns dazu zwingen wollen,<lb/> die beiden Religionslehren des Apostels für gleichberechtigt zu erachten.</p><lb/> <p>Dies ist der Kampf, in welchem sich das Christentum vom ersten<lb/> Tage an befand, dies ist die Tragödie des Christentums, gegen welche<lb/> die göttliche und lebendige Erscheinung Jesu Christi, der einzige Quell,<lb/> aus dem Alles strömt, was jemals im Christentum Religion genannt zu<lb/> werden verdiente, bald in den Hintergrund trat. Nannte ich Paulus<lb/> speziell, so hat man doch aus mancher eingestreuten Bemerkung er-<lb/> sehen, dass ich weit entfernt bin, ihn als die einzige Quelle aller christ-<lb/> lichen Theologie zu betrachten; gar manches in derselben ist spätere Zu-<lb/> that, und grosse weltbewegende Religionskämpfe, wie z. B. der zwischen<lb/> Arianern und Athanasiern, spielen sich fast ganz ausserhalb der pau-<lb/> linischen Vorstellungen ab.<note place="foot" n="1)">Wobei ich nicht übersehe, dass die Arianer sich auf die ziemlich dunkle<lb/> Stelle in dem Brief an die Philipper (dessen Authenticität allerdings stark bezweifelt<lb/> wird) Kap. II, Vers 6 berufen.</note> In einem Buch wie dem vorliegenden<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [590/0069]
Der Kampf.
wir in diesem Falle selbst einen Martin Luther rechnen — die gor-
dischen Knoten, die hier vorliegen (und es sind ihrer mehrere), lassen
sich nicht lösen, sondern nur zerhauen: entweder man ist für Paulus
oder man ist gegen ihn, und entweder man ist für die dogmatisch-
chronistische pharisäische Theologie des einen Paulus, oder man glaubt
mit jenem anderen Paulus an eine transscendente Wahrheit hinter dem
»rätselhaften Spiegelbilde« des empirischen Scheines. Und nur in diesem
letzteren Falle versteht man ihn, wenn er (wie Christus) von dem »Ge-
heimnis« redet, nicht von einer Rechtfertigung (wie die Juden), sondern
von dem Geheimnis der »Verwandlung« (I. Cor. XV, 51). Man begreift
auch diese Verwandlung als etwas nicht Künftiges, sondern Zeitloses,
d. h. Gegenwärtiges: »ihr seid selig geworden; er hat uns in das
himmlische Wesen versetzt — — —« (Eph. II, 5, 6). Und »müssen
wir menschlich davon reden, um der Schwachheit willen unseres
Fleisches« (Röm. VI, 19), müssen wir mit Worten von jenem Ge-
heimnis reden, das kein Wort erreicht, das wir wohl in Jesus Christus
erblicken, doch nicht denken und darum nicht aussprechen können —
nun so reden wir von Erbsünde, von Gnade, von Erlösung durch
Wiedergeburt, und das alles fassen wir mit Paulus als Glauben zu-
sammen. Lassen wir also selbst die abweichenden Lehren anderer
Apostel bei Seite, sehen wir ab von den späteren Accrescenzen zur
kirchlichen Lehre aus Mythologie, Metaphysik und Superstition, und
halten wir uns an Paulus allein, so zünden wir einen unausgleichbaren
Kampf im eigenen Herzen an, sobald wir uns dazu zwingen wollen,
die beiden Religionslehren des Apostels für gleichberechtigt zu erachten.
Dies ist der Kampf, in welchem sich das Christentum vom ersten
Tage an befand, dies ist die Tragödie des Christentums, gegen welche
die göttliche und lebendige Erscheinung Jesu Christi, der einzige Quell,
aus dem Alles strömt, was jemals im Christentum Religion genannt zu
werden verdiente, bald in den Hintergrund trat. Nannte ich Paulus
speziell, so hat man doch aus mancher eingestreuten Bemerkung er-
sehen, dass ich weit entfernt bin, ihn als die einzige Quelle aller christ-
lichen Theologie zu betrachten; gar manches in derselben ist spätere Zu-
that, und grosse weltbewegende Religionskämpfe, wie z. B. der zwischen
Arianern und Athanasiern, spielen sich fast ganz ausserhalb der pau-
linischen Vorstellungen ab. 1) In einem Buch wie dem vorliegenden
1) Wobei ich nicht übersehe, dass die Arianer sich auf die ziemlich dunkle
Stelle in dem Brief an die Philipper (dessen Authenticität allerdings stark bezweifelt
wird) Kap. II, Vers 6 berufen.
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