p1c_063.001 als Menschen werth sind. Wer sich nicht überzeugen kann, p1c_063.002 daß jeder Mensch jeder Aufopferung für die Wahrheit fähig p1c_063.003 sey, sobald ihn ein höherer Geist treibt, dieser mag das p1c_063.004 Leiden der Märtyrer historisch glauben oder nicht, er wird p1c_063.005 nie ein Christ seyn. Wer die Mosaische Schöpfungsgeschichte p1c_063.006 historisch annimmt, ist deswegeu noch eben so wenig p1c_063.007 ein Christ, als der ein gefährlicher Feind der Religion, welcher p1c_063.008 historisch daran zweifelt. - Aus diesen Bemerkungen p1c_063.009 erhellt, daß Mysterie, Religion und Poesie in einem engen p1c_063.010 Bunde zusammen wirken müssen, die Menschen und das p1c_063.011 Volk zu erziehn, daß eine Stimmung zum Geheimnißvollen, p1c_063.012 Heiligen und Schönen unumgänglich nöthig ist, um das p1c_063.013 Herz zu läutern und zu bessern, und daß man die Religion, p1c_063.014 deren göttliche Wahrheit erst der völlig entwickelte Geist p1c_063.015 empfinden kann, nothwendig profanire, wenn man sie in p1c_063.016 ein Machwerk von Begriffen und Formeln verwandelt, welches p1c_063.017 schon den Kindern, trotz ihres Widerwillens, unter p1c_063.018 Furcht und Zittern eingezwungen wird.
p1c_063.019 Anmerk. 5. Die so genannte Kunstillusion,p1c_063.020 welche durch das Schöne hervorgeoracht wird, ist also p1c_063.021 eigentlich keine Jllusion, sondern das Vorgefühl der p1c_063.022 höchsten Wahrheit. Die Schönheit eines Gedichts, die p1c_063.023 uns oft zu Freudethränen zwingt, erweckt in uns das Bewußtseyn p1c_063.024 von der ursprünglichen Einheit des Geistes und p1c_063.025 der Natur im Göttlichen. Die himmlische Wehmuth p1c_063.026 und Sehnsucht oder Wonne, die mancher Vers in p1c_063.027 Klopstock athmet, realisirt den Himmel. Wer eine
p1c_063.001 als Menschen werth sind. Wer sich nicht überzeugen kann, p1c_063.002 daß jeder Mensch jeder Aufopferung für die Wahrheit fähig p1c_063.003 sey, sobald ihn ein höherer Geist treibt, dieser mag das p1c_063.004 Leiden der Märtyrer historisch glauben oder nicht, er wird p1c_063.005 nie ein Christ seyn. Wer die Mosaische Schöpfungsgeschichte p1c_063.006 historisch annimmt, ist deswegeu noch eben so wenig p1c_063.007 ein Christ, als der ein gefährlicher Feind der Religion, welcher p1c_063.008 historisch daran zweifelt. ─ Aus diesen Bemerkungen p1c_063.009 erhellt, daß Mysterie, Religion und Poesie in einem engen p1c_063.010 Bunde zusammen wirken müssen, die Menschen und das p1c_063.011 Volk zu erziehn, daß eine Stimmung zum Geheimnißvollen, p1c_063.012 Heiligen und Schönen unumgänglich nöthig ist, um das p1c_063.013 Herz zu läutern und zu bessern, und daß man die Religion, p1c_063.014 deren göttliche Wahrheit erst der völlig entwickelte Geist p1c_063.015 empfinden kann, nothwendig profanire, wenn man sie in p1c_063.016 ein Machwerk von Begriffen und Formeln verwandelt, welches p1c_063.017 schon den Kindern, trotz ihres Widerwillens, unter p1c_063.018 Furcht und Zittern eingezwungen wird.
p1c_063.019 Anmerk. 5. Die so genannte Kunstillusion,p1c_063.020 welche durch das Schöne hervorgeoracht wird, ist also p1c_063.021 eigentlich keine Jllusion, sondern das Vorgefühl der p1c_063.022 höchsten Wahrheit. Die Schönheit eines Gedichts, die p1c_063.023 uns oft zu Freudethränen zwingt, erweckt in uns das Bewußtseyn p1c_063.024 von der ursprünglichen Einheit des Geistes und p1c_063.025 der Natur im Göttlichen. Die himmlische Wehmuth p1c_063.026 und Sehnsucht oder Wonne, die mancher Vers in p1c_063.027 Klopstock athmet, realisirt den Himmel. Wer eine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0121"n="63"/><lbn="p1c_063.001"/>
als Menschen werth sind. Wer sich nicht überzeugen kann, <lbn="p1c_063.002"/>
daß jeder Mensch jeder Aufopferung für die Wahrheit fähig <lbn="p1c_063.003"/>
sey, sobald ihn ein höherer Geist treibt, dieser mag das <lbn="p1c_063.004"/>
Leiden der Märtyrer historisch glauben oder nicht, er wird <lbn="p1c_063.005"/>
nie ein <hirendition="#g">Christ</hi> seyn. Wer die Mosaische Schöpfungsgeschichte <lbn="p1c_063.006"/>
historisch annimmt, ist deswegeu noch eben so wenig <lbn="p1c_063.007"/>
ein Christ, als der ein gefährlicher Feind der Religion, welcher <lbn="p1c_063.008"/>
historisch daran zweifelt. ─ Aus diesen Bemerkungen <lbn="p1c_063.009"/>
erhellt, daß Mysterie, Religion und Poesie in einem engen <lbn="p1c_063.010"/>
Bunde zusammen wirken müssen, die Menschen und das <lbn="p1c_063.011"/>
Volk zu erziehn, daß eine Stimmung zum Geheimnißvollen, <lbn="p1c_063.012"/>
Heiligen und Schönen unumgänglich nöthig ist, um das <lbn="p1c_063.013"/>
Herz zu läutern und zu bessern, und daß man die Religion, <lbn="p1c_063.014"/>
deren göttliche Wahrheit erst der völlig entwickelte Geist <lbn="p1c_063.015"/>
empfinden kann, nothwendig profanire, wenn man sie in <lbn="p1c_063.016"/>
ein Machwerk von Begriffen und Formeln verwandelt, welches <lbn="p1c_063.017"/>
schon den Kindern, trotz ihres Widerwillens, unter <lbn="p1c_063.018"/>
Furcht und Zittern eingezwungen wird.</p><p><lbn="p1c_063.019"/><hirendition="#g">Anmerk.</hi> 5. Die so genannte <hirendition="#g">Kunstillusion,</hi><lbn="p1c_063.020"/>
welche durch das <hirendition="#g">Schöne</hi> hervorgeoracht wird, ist also <lbn="p1c_063.021"/>
eigentlich keine <hirendition="#g">Jllusion,</hi> sondern das Vorgefühl der <lbn="p1c_063.022"/>
höchsten Wahrheit. Die Schönheit eines Gedichts, die <lbn="p1c_063.023"/>
uns oft zu Freudethränen zwingt, erweckt in uns das Bewußtseyn <lbn="p1c_063.024"/>
von der ursprünglichen Einheit des Geistes und <lbn="p1c_063.025"/>
der Natur im <hirendition="#g">Göttlichen.</hi> Die <hirendition="#g">himmlische</hi> Wehmuth <lbn="p1c_063.026"/>
und Sehnsucht oder Wonne, die mancher Vers in <lbn="p1c_063.027"/>
Klopstock athmet, realisirt den Himmel. Wer eine
</p></div></div></body></text></TEI>
[63/0121]
p1c_063.001
als Menschen werth sind. Wer sich nicht überzeugen kann, p1c_063.002
daß jeder Mensch jeder Aufopferung für die Wahrheit fähig p1c_063.003
sey, sobald ihn ein höherer Geist treibt, dieser mag das p1c_063.004
Leiden der Märtyrer historisch glauben oder nicht, er wird p1c_063.005
nie ein Christ seyn. Wer die Mosaische Schöpfungsgeschichte p1c_063.006
historisch annimmt, ist deswegeu noch eben so wenig p1c_063.007
ein Christ, als der ein gefährlicher Feind der Religion, welcher p1c_063.008
historisch daran zweifelt. ─ Aus diesen Bemerkungen p1c_063.009
erhellt, daß Mysterie, Religion und Poesie in einem engen p1c_063.010
Bunde zusammen wirken müssen, die Menschen und das p1c_063.011
Volk zu erziehn, daß eine Stimmung zum Geheimnißvollen, p1c_063.012
Heiligen und Schönen unumgänglich nöthig ist, um das p1c_063.013
Herz zu läutern und zu bessern, und daß man die Religion, p1c_063.014
deren göttliche Wahrheit erst der völlig entwickelte Geist p1c_063.015
empfinden kann, nothwendig profanire, wenn man sie in p1c_063.016
ein Machwerk von Begriffen und Formeln verwandelt, welches p1c_063.017
schon den Kindern, trotz ihres Widerwillens, unter p1c_063.018
Furcht und Zittern eingezwungen wird.
p1c_063.019
Anmerk. 5. Die so genannte Kunstillusion, p1c_063.020
welche durch das Schöne hervorgeoracht wird, ist also p1c_063.021
eigentlich keine Jllusion, sondern das Vorgefühl der p1c_063.022
höchsten Wahrheit. Die Schönheit eines Gedichts, die p1c_063.023
uns oft zu Freudethränen zwingt, erweckt in uns das Bewußtseyn p1c_063.024
von der ursprünglichen Einheit des Geistes und p1c_063.025
der Natur im Göttlichen. Die himmlische Wehmuth p1c_063.026
und Sehnsucht oder Wonne, die mancher Vers in p1c_063.027
Klopstock athmet, realisirt den Himmel. Wer eine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/121>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.