p1c_278.001 Nicht immer stärkt ein hinzugefügtes Epitheton den Gedanken, p1c_278.002 oft schwächt es die Rede, wenn dadurch entweder ein p1c_278.003 völliger Pleonasmus entsteht, oder wenn man dadurch an p1c_278.004 Nebenideen erinnert wird, von denen man itzt nichts wissen p1c_278.005 will. Es giebt z. B. für den, welcher ästhetisches Gefühl p1c_278.006 und philosophische Einsicht genug besitzt, keine erhabenere p1c_278.007 Stelle in der Welt, als die Worte Christi im Johannes: - p1c_278.008 "Philippe, wer mich sieht, siehet den Vater." Nonnus p1c_278.009 Panopolitanus in seiner Metaphrase des Evangeliums nach p1c_278.010 dem Johannes macht daraus folgenden Hexameter: Pas p1c_278.011 brotos os me noese, kai aphthiton eide tokea. Ungerechnet, p1c_278.012 daß das patera in tokea verwandelt worden, p1c_278.013 so ist das aphthiton hier ganz kraftlos. - Uebrigens sind p1c_278.014 die ältern Dichter nicht einmal mit einem Epitheton zufrieden. p1c_278.015 Sie häufen sie auf einander in verschiedenen Stellungen, p1c_278.016 zumal in den Hymnen, und ohne Verbindungsworte. p1c_278.017 Man fängt an im Deutschen in den dem griechischen Styl p1c_278.018 nachgebildeten Gedichten die Epitheten nach dem Worte zu p1c_278.019 setzen. Dies wird dem Genius unserer Sprache nicht zuwider p1c_278.020 seyn, sobald das Epitheton nur bedeutend ist, und etwas p1c_278.021 Wichtiges, Unterscheidendes sagt oder nur volltönig p1c_278.022 ist. "Sie kamen ans Meer, aus dunkelrollende" u. s. w. p1c_278.023 Jst aber das Epitheton klanglos, unwichtig, so bekommt es p1c_278.024 durch die Stellung zu viel Accent, und die Construction p1c_278.025 wird geziert. - Wenn der Dichter viele Namen zu nennen p1c_278.026 hat, die an sich nichts sagen, so hebt er sie durch Epitheten. p1c_278.027 Bey den ältesten Griechen waren oft die Gedichte p1c_278.028 versus memoriales, z. B. die Theogonie des Hesiodus
p1c_278.001 Nicht immer stärkt ein hinzugefügtes Epitheton den Gedanken, p1c_278.002 oft schwächt es die Rede, wenn dadurch entweder ein p1c_278.003 völliger Pleonasmus entsteht, oder wenn man dadurch an p1c_278.004 Nebenideen erinnert wird, von denen man itzt nichts wissen p1c_278.005 will. Es giebt z. B. für den, welcher ästhetisches Gefühl p1c_278.006 und philosophische Einsicht genug besitzt, keine erhabenere p1c_278.007 Stelle in der Welt, als die Worte Christi im Johannes: ─ p1c_278.008 „Philippe, wer mich sieht, siehet den Vater.“ Nonnus p1c_278.009 Panopolitanus in seiner Metaphrase des Evangeliums nach p1c_278.010 dem Johannes macht daraus folgenden Hexameter: Πας p1c_278.011 βροτος ὁς με νοησε, και ἀφθιτον εἰδε τοκηα. Ungerechnet, p1c_278.012 daß das πατερα in τοκηα verwandelt worden, p1c_278.013 so ist das ἀφθιτον hier ganz kraftlos. ─ Uebrigens sind p1c_278.014 die ältern Dichter nicht einmal mit einem Epitheton zufrieden. p1c_278.015 Sie häufen sie auf einander in verschiedenen Stellungen, p1c_278.016 zumal in den Hymnen, und ohne Verbindungsworte. p1c_278.017 Man fängt an im Deutschen in den dem griechischen Styl p1c_278.018 nachgebildeten Gedichten die Epitheten nach dem Worte zu p1c_278.019 setzen. Dies wird dem Genius unserer Sprache nicht zuwider p1c_278.020 seyn, sobald das Epitheton nur bedeutend ist, und etwas p1c_278.021 Wichtiges, Unterscheidendes sagt oder nur volltönig p1c_278.022 ist. „Sie kamen ans Meer, aus dunkelrollende“ u. s. w. p1c_278.023 Jst aber das Epitheton klanglos, unwichtig, so bekommt es p1c_278.024 durch die Stellung zu viel Accent, und die Construction p1c_278.025 wird geziert. ─ Wenn der Dichter viele Namen zu nennen p1c_278.026 hat, die an sich nichts sagen, so hebt er sie durch Epitheten. p1c_278.027 Bey den ältesten Griechen waren oft die Gedichte p1c_278.028 versus memoriales, z. B. die Theogonie des Hesiodus
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Nicht immer stärkt ein hinzugefügtes Epitheton den Gedanken, p1c_278.002
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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/336>, abgerufen am 25.11.2024.
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