p1c_017.001 An die Regeln der Wohlredenheit ist jeder Schriftsteller gebunden, p1c_017.002 er mag die trockenste Materie abzuhandeln haben. p1c_017.003 Nun giebt es einen höhern Grad von Wohlredenheit,p1c_017.004 zu dem sich die Sprache nur dann erhebt, wenn sie nicht p1c_017.005 blos Gedanken anzeigen, sondern diesen Gedanken auch p1c_017.006 besondern Eingang bey den Zuhörern verschaffen, durch diese p1c_017.007 Gedanken die Seele der Zuhörer zu etwas bestimmen will. p1c_017.008 Dies ist denn die Beredsamkeit. Der Schriftsteller, p1c_017.009 der gelesen, der Redner in Kirchen oder Volksversammlungen p1c_017.010 und vor dem Richterstuhle, der gehört seyn will, der p1c_017.011 Feldherr, der seine Krieger zur Schlacht aufmuntert, muß p1c_017.012 die Kunstgriffe kennen, die ihm sein Publikum geneigt p1c_017.013 machen. Beredsamkeit ist also eine angewandte Psychologie,p1c_017.014 ein Theil der Politik, und wird fälschlich zu den p1c_017.015 freyen Künsten gerechnet. Dennn sie ist durch den Hauptzweck, p1c_017.016 die Gemüther zu stimmen, bedingt. Daher sind p1c_017.017 auch ihre Regeln, z. B. daß man bescheiden und mit einer p1c_017.018 captatione benevolentiae anfangen müsse, wenn man p1c_017.019 etwa keinen Catilina niederzudonnern hat, daß die Peroration p1c_017.020 concentrirt und heftig seyn solle, weil die letzten Worte p1c_017.021 den Zuhörer am meisten zur Handlung bestimmen, u. s. w. p1c_017.022 - alle diese Regeln sind auf die Kenntniß des menschlichen p1c_017.023 Herzens gebaut, und keine ästhetischen. Daher ist auch p1c_017.024 keine Beredsamkeit falsch, sobald sie ihren äußern Zweck nur p1c_017.025 erreicht, und wenn man ein geschmackloses verderbtes Publikum p1c_017.026 mit Floskeln hinreißen kann, so hat man das volle p1c_017.027 politische Recht, es zu thun. Wenn sich der Dichter ein p1c_017.028 Publikum denkt, so ist dies zufällig, und er thut es selten,
p1c_017.001 An die Regeln der Wohlredenheit ist jeder Schriftsteller gebunden, p1c_017.002 er mag die trockenste Materie abzuhandeln haben. p1c_017.003 Nun giebt es einen höhern Grad von Wohlredenheit,p1c_017.004 zu dem sich die Sprache nur dann erhebt, wenn sie nicht p1c_017.005 blos Gedanken anzeigen, sondern diesen Gedanken auch p1c_017.006 besondern Eingang bey den Zuhörern verschaffen, durch diese p1c_017.007 Gedanken die Seele der Zuhörer zu etwas bestimmen will. p1c_017.008 Dies ist denn die Beredsamkeit. Der Schriftsteller, p1c_017.009 der gelesen, der Redner in Kirchen oder Volksversammlungen p1c_017.010 und vor dem Richterstuhle, der gehört seyn will, der p1c_017.011 Feldherr, der seine Krieger zur Schlacht aufmuntert, muß p1c_017.012 die Kunstgriffe kennen, die ihm sein Publikum geneigt p1c_017.013 machen. Beredsamkeit ist also eine angewandte Psychologie,p1c_017.014 ein Theil der Politik, und wird fälschlich zu den p1c_017.015 freyen Künsten gerechnet. Dennn sie ist durch den Hauptzweck, p1c_017.016 die Gemüther zu stimmen, bedingt. Daher sind p1c_017.017 auch ihre Regeln, z. B. daß man bescheiden und mit einer p1c_017.018 captatione benevolentiae anfangen müsse, wenn man p1c_017.019 etwa keinen Catilina niederzudonnern hat, daß die Peroration p1c_017.020 concentrirt und heftig seyn solle, weil die letzten Worte p1c_017.021 den Zuhörer am meisten zur Handlung bestimmen, u. s. w. p1c_017.022 ─ alle diese Regeln sind auf die Kenntniß des menschlichen p1c_017.023 Herzens gebaut, und keine ästhetischen. Daher ist auch p1c_017.024 keine Beredsamkeit falsch, sobald sie ihren äußern Zweck nur p1c_017.025 erreicht, und wenn man ein geschmackloses verderbtes Publikum p1c_017.026 mit Floskeln hinreißen kann, so hat man das volle p1c_017.027 politische Recht, es zu thun. Wenn sich der Dichter ein p1c_017.028 Publikum denkt, so ist dies zufällig, und er thut es selten,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0075"n="17"/><lbn="p1c_017.001"/>
An die Regeln der Wohlredenheit ist jeder Schriftsteller gebunden, <lbn="p1c_017.002"/>
er mag die trockenste Materie abzuhandeln haben. <lbn="p1c_017.003"/>
Nun giebt es einen höhern Grad von <hirendition="#g">Wohlredenheit,</hi><lbn="p1c_017.004"/>
zu dem sich die Sprache nur dann erhebt, wenn sie nicht <lbn="p1c_017.005"/>
blos Gedanken anzeigen, sondern diesen Gedanken auch <lbn="p1c_017.006"/>
besondern Eingang bey den Zuhörern verschaffen, durch diese <lbn="p1c_017.007"/>
Gedanken die Seele der Zuhörer zu etwas bestimmen will. <lbn="p1c_017.008"/>
Dies ist denn die <hirendition="#g">Beredsamkeit.</hi> Der Schriftsteller, <lbn="p1c_017.009"/>
der gelesen, der Redner in Kirchen oder Volksversammlungen <lbn="p1c_017.010"/>
und vor dem Richterstuhle, der gehört seyn will, der <lbn="p1c_017.011"/>
Feldherr, der seine Krieger zur Schlacht aufmuntert, muß <lbn="p1c_017.012"/>
die Kunstgriffe kennen, die ihm sein Publikum geneigt <lbn="p1c_017.013"/>
machen. <hirendition="#g">Beredsamkeit</hi> ist also eine angewandte <hirendition="#g">Psychologie,</hi><lbn="p1c_017.014"/>
ein Theil der Politik, und wird fälschlich zu den <lbn="p1c_017.015"/>
freyen Künsten gerechnet. Dennn sie ist durch den Hauptzweck, <lbn="p1c_017.016"/>
die Gemüther zu stimmen, bedingt. Daher sind <lbn="p1c_017.017"/>
auch ihre Regeln, z. B. daß man bescheiden und mit einer <lbn="p1c_017.018"/><hirendition="#aq">captatione benevolentiae</hi> anfangen müsse, wenn man <lbn="p1c_017.019"/>
etwa keinen Catilina niederzudonnern hat, daß die Peroration <lbn="p1c_017.020"/>
concentrirt und heftig seyn solle, weil die letzten Worte <lbn="p1c_017.021"/>
den Zuhörer am meisten zur Handlung bestimmen, u. s. w. <lbn="p1c_017.022"/>─ alle diese Regeln sind auf die Kenntniß des menschlichen <lbn="p1c_017.023"/>
Herzens gebaut, und keine ästhetischen. Daher ist auch <lbn="p1c_017.024"/>
keine Beredsamkeit falsch, sobald sie ihren äußern Zweck nur <lbn="p1c_017.025"/>
erreicht, und wenn man ein geschmackloses verderbtes Publikum <lbn="p1c_017.026"/>
mit Floskeln hinreißen kann, so hat man das volle <lbn="p1c_017.027"/>
politische Recht, es zu thun. Wenn sich der Dichter ein <lbn="p1c_017.028"/>
Publikum denkt, so ist dies zufällig, und er thut es selten,
</p></div></div></body></text></TEI>
[17/0075]
p1c_017.001
An die Regeln der Wohlredenheit ist jeder Schriftsteller gebunden, p1c_017.002
er mag die trockenste Materie abzuhandeln haben. p1c_017.003
Nun giebt es einen höhern Grad von Wohlredenheit, p1c_017.004
zu dem sich die Sprache nur dann erhebt, wenn sie nicht p1c_017.005
blos Gedanken anzeigen, sondern diesen Gedanken auch p1c_017.006
besondern Eingang bey den Zuhörern verschaffen, durch diese p1c_017.007
Gedanken die Seele der Zuhörer zu etwas bestimmen will. p1c_017.008
Dies ist denn die Beredsamkeit. Der Schriftsteller, p1c_017.009
der gelesen, der Redner in Kirchen oder Volksversammlungen p1c_017.010
und vor dem Richterstuhle, der gehört seyn will, der p1c_017.011
Feldherr, der seine Krieger zur Schlacht aufmuntert, muß p1c_017.012
die Kunstgriffe kennen, die ihm sein Publikum geneigt p1c_017.013
machen. Beredsamkeit ist also eine angewandte Psychologie, p1c_017.014
ein Theil der Politik, und wird fälschlich zu den p1c_017.015
freyen Künsten gerechnet. Dennn sie ist durch den Hauptzweck, p1c_017.016
die Gemüther zu stimmen, bedingt. Daher sind p1c_017.017
auch ihre Regeln, z. B. daß man bescheiden und mit einer p1c_017.018
captatione benevolentiae anfangen müsse, wenn man p1c_017.019
etwa keinen Catilina niederzudonnern hat, daß die Peroration p1c_017.020
concentrirt und heftig seyn solle, weil die letzten Worte p1c_017.021
den Zuhörer am meisten zur Handlung bestimmen, u. s. w. p1c_017.022
─ alle diese Regeln sind auf die Kenntniß des menschlichen p1c_017.023
Herzens gebaut, und keine ästhetischen. Daher ist auch p1c_017.024
keine Beredsamkeit falsch, sobald sie ihren äußern Zweck nur p1c_017.025
erreicht, und wenn man ein geschmackloses verderbtes Publikum p1c_017.026
mit Floskeln hinreißen kann, so hat man das volle p1c_017.027
politische Recht, es zu thun. Wenn sich der Dichter ein p1c_017.028
Publikum denkt, so ist dies zufällig, und er thut es selten,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/75>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.