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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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als Homer und die Tragiker gedichtet hatten und die Poesie, p1c_031.002
eine Wundererscheinung der innern Geistesnatur, läßt sich p1c_031.003
nicht weissagen, am allerwenigsten läßt sie sich durch Demonstrationen p1c_031.004
erringen. Die Poesie ist ein Werk des Genius, p1c_031.005
und der Genius ist frey von den Fesseln der p1c_031.006
Grundsätze. Man übersetzt oft das französische belles p1c_031.007
lettres
im Deutschen durch schöne Wissenschaften, p1c_031.008
eine süßlichte Pedanterie, dergleichen die Sprache mehr p1c_031.009
aufzuweisen hat. Eher wär's zu dulden, wenn man die Poesie p1c_031.010
selbst Wissenschaft des Schönen, Gaya ciencia (sagt p1c_031.011
der Trobador) nennte; denn der schaffende Geist weiß allein, p1c_031.012
wiewohl oft ohne lichtes Bewußtseyn, was er schaffen wird, nicht p1c_031.013
der reflektirende. Dieser kann nur betrachten, was geschaffen p1c_031.014
ist, aber es nicht ganz erklären, eben so wenig, als die p1c_031.015
Philosophie erklären kann das Daseyn der Welt, ohne sich p1c_031.016
mittelst der Religion an den Schöpfer anzuschmiegen. p1c_031.017
Gleichwohl soll Poetik auch mehr als bloße Kunde der p1c_031.018
Gedichte seyn, wenn sie gleich bis jetzt nichts anders p1c_031.019
gewesen ist. Sie ist eine Theorie, eine Betrachtung, p1c_031.020
zusammenhängend nach Vernunftgründen. Der Poetiker p1c_031.021
betrachtet die organischen Produkte des Geistes, nicht blos p1c_031.022
äußerlich, sondern wie der physiologische Botaniker die p1c_031.023
Pflanzen, und sucht in das Jnnere ihrer Organisation einzudringen. p1c_031.024
Die Poetik ist ein Theil der allgemeinen empirischen p1c_031.025
Psychologie, wie die ganze Aesthetik. Sie p1c_031.026
bedarf der Hypothesen zur Entwicklung ihrer Theorieen und p1c_031.027
diese Hypothesen nimmt sie aus der rationalen Psychologie. p1c_031.028
Die rationale Psychologie, oder

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als Homer und die Tragiker gedichtet hatten und die Poesie, p1c_031.002
eine Wundererscheinung der innern Geistesnatur, läßt sich p1c_031.003
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im Deutschen durch schöne Wissenschaften, p1c_031.008
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der Trobador) nennte; denn der schaffende Geist weiß allein, p1c_031.012
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/89>, abgerufen am 10.05.2024.