Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_627.001 p2c_627.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0151" n="627"/><lb n="p2c_627.001"/> sieht, wie wenig die Alten die Liebe als eine tragische Leidenschaft <lb n="p2c_627.002"/> ansahn. Es war noch nicht die schwärmerische <lb n="p2c_627.003"/> Jdee von Seelenvereinigung damit verbunden. Ein neuerer <lb n="p2c_627.004"/> würde es sich nicht haben nehmen lassen, statt eines blos <lb n="p2c_627.005"/> lyrischen allgemein gehaltenen Chors über die Liebe, eine <lb n="p2c_627.006"/> Szene zwischen dem Hämon und der Antigone anzubringen, <lb n="p2c_627.007"/> und dann wär Hämon vielleicht als minder überflüssig erschienen. <lb n="p2c_627.008"/> Die Neuern zumal die Franzosen bringen dagegen die <lb n="p2c_627.009"/> Schilderung der Liebe selbst in die alten Fabeln. Beym <lb n="p2c_627.010"/> Racine ist sie fast immer die Haupttriebfeder der Handlung. <lb n="p2c_627.011"/> Allein das ist wider alle <hi rendition="#g">kosmische</hi> Wahrscheinlichkeit, <lb n="p2c_627.012"/> da der übrige Charakter der alten Helden zu dieser romantischen <lb n="p2c_627.013"/> Liebe nicht paßt. Jn Voltaires Oedipus muß wenigstens <lb n="p2c_627.014"/> Philoklet in die Jocaste verliebt seyn. Jm Jnnius <lb n="p2c_627.015"/> Brutus hat Titus Brutus Sohn für die <hi rendition="#g">Tullia</hi> eine <lb n="p2c_627.016"/> Leidenschaft, die sich im Sinne der ächten Rittergalanterie <lb n="p2c_627.017"/> zeigt. ─ Durch solche Widersprüche im <hi rendition="#g">Hauptinteresse</hi> <lb n="p2c_627.018"/> verliehrt auch die Handlung an <hi rendition="#g">Einfachheit.</hi> <lb n="p2c_627.019"/> Voltaire hat dadurch den Titus liebenswürdiger machen, <lb n="p2c_627.020"/> die Handlung mehr verwickeln wollen. Und darüber hat <lb n="p2c_627.021"/> Plan und Charakter an heroischer Simplicität verloren. ─ <lb n="p2c_627.022"/> Um die <hi rendition="#g">Einheit</hi> der Handlung zu erhalten, muß der <lb n="p2c_627.023"/> Dichter einen solchen Stoff wählen, der an sich gehörige <lb n="p2c_627.024"/> Ausdehnung erleiden kann. Wenn er sich genöthigt sieht, <lb n="p2c_627.025"/> <hi rendition="#g">mehrere Begebenheiten</hi> an einander zu reihn, mehrere <lb n="p2c_627.026"/> Handlungen zu vereinigen, so ist dies schon Armuth in <lb n="p2c_627.027"/> der Materie. So tadelt Corneille sich selbst wegen seines <lb n="p2c_627.028"/> <hi rendition="#aq">Horace</hi>. Horaz hat eine <hi rendition="#g">doppelte</hi> Gefahr zu bestehn, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [627/0151]
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sieht, wie wenig die Alten die Liebe als eine tragische Leidenschaft p2c_627.002
ansahn. Es war noch nicht die schwärmerische p2c_627.003
Jdee von Seelenvereinigung damit verbunden. Ein neuerer p2c_627.004
würde es sich nicht haben nehmen lassen, statt eines blos p2c_627.005
lyrischen allgemein gehaltenen Chors über die Liebe, eine p2c_627.006
Szene zwischen dem Hämon und der Antigone anzubringen, p2c_627.007
und dann wär Hämon vielleicht als minder überflüssig erschienen. p2c_627.008
Die Neuern zumal die Franzosen bringen dagegen die p2c_627.009
Schilderung der Liebe selbst in die alten Fabeln. Beym p2c_627.010
Racine ist sie fast immer die Haupttriebfeder der Handlung. p2c_627.011
Allein das ist wider alle kosmische Wahrscheinlichkeit, p2c_627.012
da der übrige Charakter der alten Helden zu dieser romantischen p2c_627.013
Liebe nicht paßt. Jn Voltaires Oedipus muß wenigstens p2c_627.014
Philoklet in die Jocaste verliebt seyn. Jm Jnnius p2c_627.015
Brutus hat Titus Brutus Sohn für die Tullia eine p2c_627.016
Leidenschaft, die sich im Sinne der ächten Rittergalanterie p2c_627.017
zeigt. ─ Durch solche Widersprüche im Hauptinteresse p2c_627.018
verliehrt auch die Handlung an Einfachheit. p2c_627.019
Voltaire hat dadurch den Titus liebenswürdiger machen, p2c_627.020
die Handlung mehr verwickeln wollen. Und darüber hat p2c_627.021
Plan und Charakter an heroischer Simplicität verloren. ─ p2c_627.022
Um die Einheit der Handlung zu erhalten, muß der p2c_627.023
Dichter einen solchen Stoff wählen, der an sich gehörige p2c_627.024
Ausdehnung erleiden kann. Wenn er sich genöthigt sieht, p2c_627.025
mehrere Begebenheiten an einander zu reihn, mehrere p2c_627.026
Handlungen zu vereinigen, so ist dies schon Armuth in p2c_627.027
der Materie. So tadelt Corneille sich selbst wegen seines p2c_627.028
Horace. Horaz hat eine doppelte Gefahr zu bestehn,
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