Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_772.001 p2c_772.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0296" n="772"/><lb n="p2c_772.001"/> ist das <hi rendition="#g">Zeitalter,</hi> welches die poetische Geschichte späterer <lb n="p2c_772.002"/> Tage so reizend zu schildern weiß, wo Daphnis der Jdyllendichter, <lb n="p2c_772.003"/> wo Silen, Orpheus und andre Helden der <lb n="p2c_772.004"/> Fabel gesungen haben sollen. Buchstäbliche Aufbewahrung <lb n="p2c_772.005"/> dieser Gesänge ist nicht denkbar. Giebt es in einer solchen <lb n="p2c_772.006"/> Periode <hi rendition="#g">vor Erfindung</hi> der Buchstabenschrift <hi rendition="#g">Tradition,</hi> <lb n="p2c_772.007"/> so ist diese nur als eine fortwährend sich ausbildende <lb n="p2c_772.008"/> Poesie anzusehn, vermöge welcher der jüngere Dichter durch <lb n="p2c_772.009"/> das Beyspiel des ältern angefeuert, den Jnhalt gewisser <lb n="p2c_772.010"/> Volksgesänge auf eine neue Art darstellt. Wenn also erst <lb n="p2c_772.011"/> mit Verbreitung der Buchstabenschrift, der Gedanke objektivisirt <lb n="p2c_772.012"/> in einen Begriff verwandelt, fixirt wird, so ist in <lb n="p2c_772.013"/> dem <hi rendition="#g">ersten</hi> poetischen Zeitalter einer Nazion weder ein <lb n="p2c_772.014"/> <hi rendition="#g">Homer,</hi> noch ein <hi rendition="#g">Ossian,</hi> möglich. Der wahre Ossian <lb n="p2c_772.015"/> mag allerdings anders gedichtet haben, als das ist, was <lb n="p2c_772.016"/> Makpherson von ihm gedichtet hat, dem man bey aller <lb n="p2c_772.017"/> originellen Simplicität, doch so manche nachgeahmte Stelle <lb n="p2c_772.018"/> aus Homer, Aeschylus, Milton u. s. w. nachweisen kann. <lb n="p2c_772.019"/> Dies erhellt ans dem Jrrischen Fragmente, und selbst das, <lb n="p2c_772.020"/> was man in der Ursprache von Ossian aufzeigt, ist gewiß <lb n="p2c_772.021"/> durch die Tradition nachfolgender Barden, entstellt. Die <lb n="p2c_772.022"/> Gedichte, die wir unter dem Nahmen Homers haben, können <lb n="p2c_772.023"/> in dieser Gestalt wohl schwerlich vor Erfindung und Gebrauch <lb n="p2c_772.024"/> der Buchstabenschrift vorhanden gewesen seyn. Homers Metrum <lb n="p2c_772.025"/> und Beschreibungen sind in jeder Rücksicht so genau, so <lb n="p2c_772.026"/> objektiv bestimmt, daß man die Einwirkung der Schriftsprache <lb n="p2c_772.027"/> auf seinen Geist nicht verkennen kann. Jede Vollendung <lb n="p2c_772.028"/> und Ründung des Gedankens ist erst dann denkbar, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [772/0296]
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ist das Zeitalter, welches die poetische Geschichte späterer p2c_772.002
Tage so reizend zu schildern weiß, wo Daphnis der Jdyllendichter, p2c_772.003
wo Silen, Orpheus und andre Helden der p2c_772.004
Fabel gesungen haben sollen. Buchstäbliche Aufbewahrung p2c_772.005
dieser Gesänge ist nicht denkbar. Giebt es in einer solchen p2c_772.006
Periode vor Erfindung der Buchstabenschrift Tradition, p2c_772.007
so ist diese nur als eine fortwährend sich ausbildende p2c_772.008
Poesie anzusehn, vermöge welcher der jüngere Dichter durch p2c_772.009
das Beyspiel des ältern angefeuert, den Jnhalt gewisser p2c_772.010
Volksgesänge auf eine neue Art darstellt. Wenn also erst p2c_772.011
mit Verbreitung der Buchstabenschrift, der Gedanke objektivisirt p2c_772.012
in einen Begriff verwandelt, fixirt wird, so ist in p2c_772.013
dem ersten poetischen Zeitalter einer Nazion weder ein p2c_772.014
Homer, noch ein Ossian, möglich. Der wahre Ossian p2c_772.015
mag allerdings anders gedichtet haben, als das ist, was p2c_772.016
Makpherson von ihm gedichtet hat, dem man bey aller p2c_772.017
originellen Simplicität, doch so manche nachgeahmte Stelle p2c_772.018
aus Homer, Aeschylus, Milton u. s. w. nachweisen kann. p2c_772.019
Dies erhellt ans dem Jrrischen Fragmente, und selbst das, p2c_772.020
was man in der Ursprache von Ossian aufzeigt, ist gewiß p2c_772.021
durch die Tradition nachfolgender Barden, entstellt. Die p2c_772.022
Gedichte, die wir unter dem Nahmen Homers haben, können p2c_772.023
in dieser Gestalt wohl schwerlich vor Erfindung und Gebrauch p2c_772.024
der Buchstabenschrift vorhanden gewesen seyn. Homers Metrum p2c_772.025
und Beschreibungen sind in jeder Rücksicht so genau, so p2c_772.026
objektiv bestimmt, daß man die Einwirkung der Schriftsprache p2c_772.027
auf seinen Geist nicht verkennen kann. Jede Vollendung p2c_772.028
und Ründung des Gedankens ist erst dann denkbar,
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