Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_774.001 p2c_774.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0298" n="774"/><lb n="p2c_774.001"/><hi rendition="#g">Prinzip</hi> der Poesie (nämlich der <hi rendition="#g">Alten,</hi> die er beobachtete) <lb n="p2c_774.002"/> in die <hi rendition="#g">Nachahmung</hi> setzte. Ungeachtet der Mensch <lb n="p2c_774.003"/> schon <hi rendition="#g">idealisirte,</hi> war er sich doch dessen nicht so sehr <lb n="p2c_774.004"/> bewußt, weil seine Sehnsucht nach der Natur, ihm den verlornen <lb n="p2c_774.005"/> Naturstand schöner vorstellte, als er gewesen seyn <lb n="p2c_774.006"/> mochte. Zweytens weil die <hi rendition="#g">Wirklichkeit</hi> selbst noch <lb n="p2c_774.007"/> nicht so schlecht war. Jn diesem Zeitpunkte sammelte ein <lb n="p2c_774.008"/> <hi rendition="#g">Homer</hi> die Traditionen, welche jeden Helden der Vorzeit <lb n="p2c_774.009"/> schon nach und nach idealisirt hatten, und stellte den Menschen <lb n="p2c_774.010"/> als Naturwesen mit großen aber edeln Leidenschaften <lb n="p2c_774.011"/> dar. Jhm folgte Aeschylus, Sophocles und andre. Die <lb n="p2c_774.012"/> Verbreitung der Buchstabenschrift, die städtische Schaubühne <lb n="p2c_774.013"/> welche die Poesie concentrirte, gaben dem poetischen Gedanken <lb n="p2c_774.014"/> mehr Ründung und objektive Vollkommenheit. Ungeachtet <lb n="p2c_774.015"/> durch die Staatsverhältnisse die Menschen zusammengedrängt <lb n="p2c_774.016"/> und an einander gerieben wurden, so daß wohl <lb n="p2c_774.017"/> zuweilen ein außerordentlicher Charakter, wie die Antigone <lb n="p2c_774.018"/> des Sophocles, eine Erscheinung aus der Vernunftwelt, <lb n="p2c_774.019"/> gesehn wurde, so behielt doch auch die dramatische Poesie <lb n="p2c_774.020"/> der Griechen den Homerischen Sinn für die Schilderung der <lb n="p2c_774.021"/> individuellen lebendigen Natur. Eben dieser Sinn zeigte <lb n="p2c_774.022"/> sich in der lyrischen Poesie, und der Theokritischen Jdylle. <lb n="p2c_774.023"/> Der <hi rendition="#g">dritte Zustand</hi> endlich, in welchem der Mensch <lb n="p2c_774.024"/> aus einem idealen Standpunkte betrachtet, gefunden wird, <lb n="p2c_774.025"/> beginnt mit einer <hi rendition="#g">höhern Offenbarung.</hi> Die Sitten <lb n="p2c_774.026"/> sind auf dem höchsten Grad der Verderbtheit, die Wirklichkeit <lb n="p2c_774.027"/> ist so tief gesunken, daß der Geist alles Jnteresse am <lb n="p2c_774.028"/> Leben verliehrt, das Glück ist aus den Herzen gewichen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [774/0298]
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Prinzip der Poesie (nämlich der Alten, die er beobachtete) p2c_774.002
in die Nachahmung setzte. Ungeachtet der Mensch p2c_774.003
schon idealisirte, war er sich doch dessen nicht so sehr p2c_774.004
bewußt, weil seine Sehnsucht nach der Natur, ihm den verlornen p2c_774.005
Naturstand schöner vorstellte, als er gewesen seyn p2c_774.006
mochte. Zweytens weil die Wirklichkeit selbst noch p2c_774.007
nicht so schlecht war. Jn diesem Zeitpunkte sammelte ein p2c_774.008
Homer die Traditionen, welche jeden Helden der Vorzeit p2c_774.009
schon nach und nach idealisirt hatten, und stellte den Menschen p2c_774.010
als Naturwesen mit großen aber edeln Leidenschaften p2c_774.011
dar. Jhm folgte Aeschylus, Sophocles und andre. Die p2c_774.012
Verbreitung der Buchstabenschrift, die städtische Schaubühne p2c_774.013
welche die Poesie concentrirte, gaben dem poetischen Gedanken p2c_774.014
mehr Ründung und objektive Vollkommenheit. Ungeachtet p2c_774.015
durch die Staatsverhältnisse die Menschen zusammengedrängt p2c_774.016
und an einander gerieben wurden, so daß wohl p2c_774.017
zuweilen ein außerordentlicher Charakter, wie die Antigone p2c_774.018
des Sophocles, eine Erscheinung aus der Vernunftwelt, p2c_774.019
gesehn wurde, so behielt doch auch die dramatische Poesie p2c_774.020
der Griechen den Homerischen Sinn für die Schilderung der p2c_774.021
individuellen lebendigen Natur. Eben dieser Sinn zeigte p2c_774.022
sich in der lyrischen Poesie, und der Theokritischen Jdylle. p2c_774.023
Der dritte Zustand endlich, in welchem der Mensch p2c_774.024
aus einem idealen Standpunkte betrachtet, gefunden wird, p2c_774.025
beginnt mit einer höhern Offenbarung. Die Sitten p2c_774.026
sind auf dem höchsten Grad der Verderbtheit, die Wirklichkeit p2c_774.027
ist so tief gesunken, daß der Geist alles Jnteresse am p2c_774.028
Leben verliehrt, das Glück ist aus den Herzen gewichen,
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