Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

Bild:
<< vorherige Seite


gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszu-
gleichen. Die moderne Wissenschaft ist für einen
ästhetisch ... für einen künstlerisch veranlagten Geist
ein Ungeheuer. Sie fordert stille, dauernde Arbeit
... ein stetes Bemühtsein ... ein Wachbleiben durch
viele einsame Nächte hindurch und immer erfrischte
Geduld. Wo sollen wir da hin mit unserem bis
in's Feinste nüancirten Stimmungsleben ... mit
unseren stürmischen Affekten ... mit den großen und
kleinen -- mit den ganzen und halben Wünschen
unseres Blutes? Und unser Auge liebt noch viel
zu sehr das Sehen nach innen ... und ist noch so
ungeschickt im scharfen Erfassen der Außendinge, die
doch jetzt so sehr alle Welt beschäftigen und so dik-
tatorisch Respekt verlangen. Wir müssen die klare
Linienwelt der Antike und die verschwommene
Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmischen
Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien
schon hinter uns lassen ... und müssen uns schon
bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des Psycho-
logen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das
wird uns vorwiegend ästhetisch angelegten Naturen
recht ... recht schwer werden -- aber das einzige
Heil für uns wird es doch wohl sein. In diesem
Sinne müssen wir uns unsere Zeit analytisch zu
unterwerfen suchen. In diesem Sinne müssen wir
an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges
bereitet sich vor ... eine neue Zeit liegt in den
Geburtswehen. Wo sind die unglücklichen Opfer,
die jede Uebergangsepoche fordert? Wir sind es,


gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszu-
gleichen. Die moderne Wiſſenſchaft iſt für einen
äſthetiſch ... für einen künſtleriſch veranlagten Geiſt
ein Ungeheuer. Sie fordert ſtille, dauernde Arbeit
... ein ſtetes Bemühtſein ... ein Wachbleiben durch
viele einſame Nächte hindurch und immer erfriſchte
Geduld. Wo ſollen wir da hin mit unſerem bis
in's Feinſte nüancirten Stimmungsleben ... mit
unſeren ſtürmiſchen Affekten ... mit den großen und
kleinen — mit den ganzen und halben Wünſchen
unſeres Blutes? Und unſer Auge liebt noch viel
zu ſehr das Sehen nach innen ... und iſt noch ſo
ungeſchickt im ſcharfen Erfaſſen der Außendinge, die
doch jetzt ſo ſehr alle Welt beſchäftigen und ſo dik-
tatoriſch Reſpekt verlangen. Wir müſſen die klare
Linienwelt der Antike und die verſchwommene
Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmiſchen
Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien
ſchon hinter uns laſſen ... und müſſen uns ſchon
bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des Pſycho-
logen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das
wird uns vorwiegend äſthetiſch angelegten Naturen
recht ... recht ſchwer werden — aber das einzige
Heil für uns wird es doch wohl ſein. In dieſem
Sinne müſſen wir uns unſere Zeit analytiſch zu
unterwerfen ſuchen. In dieſem Sinne müſſen wir
an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges
bereitet ſich vor ... eine neue Zeit liegt in den
Geburtswehen. Wo ſind die unglücklichen Opfer,
die jede Uebergangsepoche fordert? Wir ſind es,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="233"/><lb/>
gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszu-<lb/>
gleichen. Die moderne Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t für einen<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;ch ... für einen kün&#x017F;tleri&#x017F;ch veranlagten Gei&#x017F;t<lb/>
ein Ungeheuer. Sie fordert &#x017F;tille, dauernde Arbeit<lb/>
... ein &#x017F;tetes Bemüht&#x017F;ein ... ein Wachbleiben durch<lb/>
viele ein&#x017F;ame Nächte hindurch und immer erfri&#x017F;chte<lb/>
Geduld. Wo &#x017F;ollen wir da hin mit un&#x017F;erem bis<lb/>
in's Fein&#x017F;te nüancirten Stimmungsleben ... mit<lb/>
un&#x017F;eren &#x017F;türmi&#x017F;chen Affekten ... mit den großen und<lb/>
kleinen &#x2014; mit den ganzen und halben Wün&#x017F;chen<lb/>
un&#x017F;eres Blutes? Und un&#x017F;er Auge liebt noch viel<lb/>
zu &#x017F;ehr das Sehen nach innen ... und i&#x017F;t noch &#x017F;o<lb/>
unge&#x017F;chickt im &#x017F;charfen Erfa&#x017F;&#x017F;en der Außendinge, die<lb/>
doch jetzt &#x017F;o &#x017F;ehr alle Welt be&#x017F;chäftigen und &#x017F;o dik-<lb/>
tatori&#x017F;ch Re&#x017F;pekt verlangen. Wir mü&#x017F;&#x017F;en die klare<lb/>
Linienwelt der Antike und die ver&#x017F;chwommene<lb/>
Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmi&#x017F;chen<lb/>
Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien<lb/>
&#x017F;chon hinter uns la&#x017F;&#x017F;en ... und mü&#x017F;&#x017F;en uns &#x017F;chon<lb/>
bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des P&#x017F;ycho-<lb/>
logen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das<lb/>
wird uns vorwiegend ä&#x017F;theti&#x017F;ch angelegten Naturen<lb/>
recht ... recht &#x017F;chwer werden &#x2014; aber das einzige<lb/>
Heil für uns wird es doch wohl &#x017F;ein. In die&#x017F;em<lb/>
Sinne mü&#x017F;&#x017F;en wir uns un&#x017F;ere Zeit analyti&#x017F;ch zu<lb/>
unterwerfen &#x017F;uchen. In die&#x017F;em Sinne mü&#x017F;&#x017F;en wir<lb/>
an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges<lb/>
bereitet &#x017F;ich vor ... eine neue Zeit liegt in den<lb/>
Geburtswehen. Wo &#x017F;ind die unglücklichen Opfer,<lb/>
die jede Uebergangsepoche fordert? Wir &#x017F;ind es,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0241] gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszu- gleichen. Die moderne Wiſſenſchaft iſt für einen äſthetiſch ... für einen künſtleriſch veranlagten Geiſt ein Ungeheuer. Sie fordert ſtille, dauernde Arbeit ... ein ſtetes Bemühtſein ... ein Wachbleiben durch viele einſame Nächte hindurch und immer erfriſchte Geduld. Wo ſollen wir da hin mit unſerem bis in's Feinſte nüancirten Stimmungsleben ... mit unſeren ſtürmiſchen Affekten ... mit den großen und kleinen — mit den ganzen und halben Wünſchen unſeres Blutes? Und unſer Auge liebt noch viel zu ſehr das Sehen nach innen ... und iſt noch ſo ungeſchickt im ſcharfen Erfaſſen der Außendinge, die doch jetzt ſo ſehr alle Welt beſchäftigen und ſo dik- tatoriſch Reſpekt verlangen. Wir müſſen die klare Linienwelt der Antike und die verſchwommene Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmiſchen Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien ſchon hinter uns laſſen ... und müſſen uns ſchon bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des Pſycho- logen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das wird uns vorwiegend äſthetiſch angelegten Naturen recht ... recht ſchwer werden — aber das einzige Heil für uns wird es doch wohl ſein. In dieſem Sinne müſſen wir uns unſere Zeit analytiſch zu unterwerfen ſuchen. In dieſem Sinne müſſen wir an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges bereitet ſich vor ... eine neue Zeit liegt in den Geburtswehen. Wo ſind die unglücklichen Opfer, die jede Uebergangsepoche fordert? Wir ſind es,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/241
Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/241>, abgerufen am 17.05.2024.