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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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einige Zeilen dictieren -- willst Du ... ja? ..
Du weißt: zu dem Aufsatze "Poesie und Philosophie
in ihrem gegenseitigen Verhältniß" -- aber nachher
-- nachher stört uns doch das Essen wieder -- --
was steht denn heute in der Volkszeitung ..?"

Hedwig rückt sich einen Stuhl neben den Sessel
ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und
liest zuerst die Telegramme.

Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigen-
thümliches Verhältniß zu einander gefunden.

Irmer ist ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiund-
zwanzig Jahre alt. Sie hat sich, allerdings mit
einer gewissen Aeußerlichkeit, in die Anschauungen
ihres Vaters eingelebt, sie hat es gelernt, sich seinen
Gewohnheiten zu fügen. Sie ist seine Gehilfin,
seine Schülerin, seine einzige, zuverlässige Lebens-
stütze geworden. Die Stürme ihrer Seele sind
vorüber, ihr Blut ist todt, sie braucht sich nicht mehr
zu bezwingen, sie kann alles mechanisch, alles hübsch
automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht
viel darnach, ob sie sich zur gläubigen, wirklich
überzeugten Anhängerin entwickelt. Er besitzt den
Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülflosen.
Er lebt ganz in der Welt seiner Gedanken. Die
andere Welt, der Mutterboden der geistigen, dünkt
ihn so ziemlich verschollen. Die Sphäre der Idee
hat für ihn fast etwas Körperliches, formell Reales
angenommen. Er sinnt über die Räthsel der Dinge
nach. Er sieht, denkt, träumt, visionirt, combinirt,
gewinnt. Nichts ist ihm das Individuum mehr.

einige Zeilen dictieren — willſt Du … ja? ..
Du weißt: zu dem Aufſatze „Poeſie und Philoſophie
in ihrem gegenſeitigen Verhältniß“ — aber nachher
— nachher ſtört uns doch das Eſſen wieder — —
was ſteht denn heute in der Volkszeitung ..?“

Hedwig rückt ſich einen Stuhl neben den Seſſel
ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und
lieſt zuerſt die Telegramme.

Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigen-
thümliches Verhältniß zu einander gefunden.

Irmer iſt ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiund-
zwanzig Jahre alt. Sie hat ſich, allerdings mit
einer gewiſſen Aeußerlichkeit, in die Anſchauungen
ihres Vaters eingelebt, ſie hat es gelernt, ſich ſeinen
Gewohnheiten zu fügen. Sie iſt ſeine Gehilfin,
ſeine Schülerin, ſeine einzige, zuverläſſige Lebens-
ſtütze geworden. Die Stürme ihrer Seele ſind
vorüber, ihr Blut iſt todt, ſie braucht ſich nicht mehr
zu bezwingen, ſie kann alles mechaniſch, alles hübſch
automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht
viel darnach, ob ſie ſich zur gläubigen, wirklich
überzeugten Anhängerin entwickelt. Er beſitzt den
Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülfloſen.
Er lebt ganz in der Welt ſeiner Gedanken. Die
andere Welt, der Mutterboden der geiſtigen, dünkt
ihn ſo ziemlich verſchollen. Die Sphäre der Idee
hat für ihn faſt etwas Körperliches, formell Reales
angenommen. Er ſinnt über die Räthſel der Dinge
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gewinnt. Nichts iſt ihm das Individuum mehr.

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[26/0034] einige Zeilen dictieren — willſt Du … ja? .. Du weißt: zu dem Aufſatze „Poeſie und Philoſophie in ihrem gegenſeitigen Verhältniß“ — aber nachher — nachher ſtört uns doch das Eſſen wieder — — was ſteht denn heute in der Volkszeitung ..?“ Hedwig rückt ſich einen Stuhl neben den Seſſel ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und lieſt zuerſt die Telegramme. Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigen- thümliches Verhältniß zu einander gefunden. Irmer iſt ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiund- zwanzig Jahre alt. Sie hat ſich, allerdings mit einer gewiſſen Aeußerlichkeit, in die Anſchauungen ihres Vaters eingelebt, ſie hat es gelernt, ſich ſeinen Gewohnheiten zu fügen. Sie iſt ſeine Gehilfin, ſeine Schülerin, ſeine einzige, zuverläſſige Lebens- ſtütze geworden. Die Stürme ihrer Seele ſind vorüber, ihr Blut iſt todt, ſie braucht ſich nicht mehr zu bezwingen, ſie kann alles mechaniſch, alles hübſch automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht viel darnach, ob ſie ſich zur gläubigen, wirklich überzeugten Anhängerin entwickelt. Er beſitzt den Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülfloſen. Er lebt ganz in der Welt ſeiner Gedanken. Die andere Welt, der Mutterboden der geiſtigen, dünkt ihn ſo ziemlich verſchollen. Die Sphäre der Idee hat für ihn faſt etwas Körperliches, formell Reales angenommen. Er ſinnt über die Räthſel der Dinge nach. Er ſieht, denkt, träumt, viſionirt, combinirt, gewinnt. Nichts iſt ihm das Individuum mehr.

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/34>, abgerufen am 23.11.2024.