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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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Schweißtropfen. Die Decke war ihr von den Knieen
auf den Teppich hinabgeglitten, die obersten Knöpfe
des Kleides waren ihren Oeffnungen entschlüpft,
discret schimmerte das Weiß vom Spitzenbesatze des
Hemdes durch den schmalen Spalt.

Adam erhob sich, kleidete sich nothdürftig an
und schlich nach seinem Arbeitszimmer hinüber. Er
öffnete das Fenster, unten auf der Straße trieb
rüstig das Leben. Da drüben auf der anderen
Seite hatte er gestern Abend ... hatte er heute
Nacht gestanden, und nach hier hinaufgestarrt. Und
jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes
Menschenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor
ein paar Stunden -- denn länger war's doch nicht
her -- gestanden, mutterseelenallein gestanden, mutter-
seelenallein in der schweigenden Nacht. Und doch
dünkte es ihn, es wäre das schon lange, lange her,
viele, viele Jahre. Er war heute ein so ganz An-
derer, wohl war kaum das Bewußtsein intimer
Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie
eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleise einge-
lenkt. Dies und das kam noch zu ihm in seiner
stillen Morgenschau an losen Erinnerungen, die Er-
lebnisse der jüngsten Tage mitbrachten. Hui! Er
war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ...
und das war jedenfalls das Curioseste von Allem,
worauf er sich in dieser Stunde besinnen mußte.

Nun bestellte er sich seinen Kaffee und machte
Toilette. So viel Zeit war gar nicht mehr übrig.
Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreisen

Schweißtropfen. Die Decke war ihr von den Knieen
auf den Teppich hinabgeglitten, die oberſten Knöpfe
des Kleides waren ihren Oeffnungen entſchlüpft,
discret ſchimmerte das Weiß vom Spitzenbeſatze des
Hemdes durch den ſchmalen Spalt.

Adam erhob ſich, kleidete ſich nothdürftig an
und ſchlich nach ſeinem Arbeitszimmer hinüber. Er
öffnete das Fenſter, unten auf der Straße trieb
rüſtig das Leben. Da drüben auf der anderen
Seite hatte er geſtern Abend ... hatte er heute
Nacht geſtanden, und nach hier hinaufgeſtarrt. Und
jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes
Menſchenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor
ein paar Stunden — denn länger war's doch nicht
her — geſtanden, mutterſeelenallein geſtanden, mutter-
ſeelenallein in der ſchweigenden Nacht. Und doch
dünkte es ihn, es wäre das ſchon lange, lange her,
viele, viele Jahre. Er war heute ein ſo ganz An-
derer, wohl war kaum das Bewußtſein intimer
Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie
eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleiſe einge-
lenkt. Dies und das kam noch zu ihm in ſeiner
ſtillen Morgenſchau an loſen Erinnerungen, die Er-
lebniſſe der jüngſten Tage mitbrachten. Hui! Er
war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ...
und das war jedenfalls das Curioſeſte von Allem,
worauf er ſich in dieſer Stunde beſinnen mußte.

Nun beſtellte er ſich ſeinen Kaffee und machte
Toilette. So viel Zeit war gar nicht mehr übrig.
Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreiſen

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[428/0436] Schweißtropfen. Die Decke war ihr von den Knieen auf den Teppich hinabgeglitten, die oberſten Knöpfe des Kleides waren ihren Oeffnungen entſchlüpft, discret ſchimmerte das Weiß vom Spitzenbeſatze des Hemdes durch den ſchmalen Spalt. Adam erhob ſich, kleidete ſich nothdürftig an und ſchlich nach ſeinem Arbeitszimmer hinüber. Er öffnete das Fenſter, unten auf der Straße trieb rüſtig das Leben. Da drüben auf der anderen Seite hatte er geſtern Abend ... hatte er heute Nacht geſtanden, und nach hier hinaufgeſtarrt. Und jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes Menſchenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor ein paar Stunden — denn länger war's doch nicht her — geſtanden, mutterſeelenallein geſtanden, mutter- ſeelenallein in der ſchweigenden Nacht. Und doch dünkte es ihn, es wäre das ſchon lange, lange her, viele, viele Jahre. Er war heute ein ſo ganz An- derer, wohl war kaum das Bewußtſein intimer Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleiſe einge- lenkt. Dies und das kam noch zu ihm in ſeiner ſtillen Morgenſchau an loſen Erinnerungen, die Er- lebniſſe der jüngſten Tage mitbrachten. Hui! Er war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ... und das war jedenfalls das Curioſeſte von Allem, worauf er ſich in dieſer Stunde beſinnen mußte. Nun beſtellte er ſich ſeinen Kaffee und machte Toilette. So viel Zeit war gar nicht mehr übrig. Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreiſen

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/436>, abgerufen am 24.11.2024.