noch Abscheu; würde ich niemals weder Liebe noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em- pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei- ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä- hig. Jch würde mich niemals einiger Laster schuldig machen; aber ich wäre auch eben so un- fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen. Wäre ich bloß ein denkendes Wesen, so wäre ich ein Spiegel, in dem sich tausend Bilder der vor ihm befindlichen Gegenstände abweichen können, ohne daß er dadurch die geringste Thätigkeit em- pfängt, oder veranlaßt wird, auf sie zurück zu wirken und diese oder jene Veränderung darinnen hervorzubringen.
Meine Seele also ist ein Wesen, das den- ken und wollen, oder nach seinen Gedanken und Vorstellungen handeln kann, weit von dem We- sen des Körpers unterschieden, ob es gleich man- nichfaltige Kräfte besitzt, die in einer beständigen Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge- walt müssen nicht diejenigen, die bloß Körper seyn wollen, sich selbst, ihrem innern Gefühle und Bewußtseyn anthun, um diesen gewissen Un-
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noch Abſcheu; würde ich niemals weder Liebe noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em- pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei- ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä- hig. Jch würde mich niemals einiger Laſter ſchuldig machen; aber ich wäre auch eben ſo un- fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen. Wäre ich bloß ein denkendes Weſen, ſo wäre ich ein Spiegel, in dem ſich tauſend Bilder der vor ihm befindlichen Gegenſtände abweichen können, ohne daß er dadurch die geringſte Thätigkeit em- pfängt, oder veranlaßt wird, auf ſie zurück zu wirken und dieſe oder jene Veränderung darinnen hervorzubringen.
Meine Seele alſo iſt ein Weſen, das den- ken und wollen, oder nach ſeinen Gedanken und Vorſtellungen handeln kann, weit von dem We- ſen des Körpers unterſchieden, ob es gleich man- nichfaltige Kräfte beſitzt, die in einer beſtändigen Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge- walt müſſen nicht diejenigen, die bloß Körper ſeyn wollen, ſich ſelbſt, ihrem innern Gefühle und Bewußtſeyn anthun, um dieſen gewiſſen Un-
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noch Abſcheu; würde ich niemals weder Liebe
noch Haß, weder Freude noch Traurigkeit em-
pfinden; wäre ich zwar außer der Gefahr des
Schreckens und der Verzweiflung, aber auch kei-
ner Hoffnung; keines Zorns, aber auch keiner
Sanftmuth; keiner Furcht, aber auch keines
Muthes, keiner Herzhaftigkeit und Kühnheit fä-
hig. Jch würde mich niemals einiger Laſter
ſchuldig machen; aber ich wäre auch eben ſo un-
fähig zu allen Tugenden und ihren Belohnungen.
Wäre ich bloß ein denkendes Weſen, ſo wäre ich
ein Spiegel, in dem ſich tauſend Bilder der vor
ihm befindlichen Gegenſtände abweichen können,
ohne daß er dadurch die geringſte Thätigkeit em-
pfängt, oder veranlaßt wird, auf ſie zurück zu
wirken und dieſe oder jene Veränderung darinnen
hervorzubringen.
Meine Seele alſo iſt ein Weſen, das den-
ken und wollen, oder nach ſeinen Gedanken und
Vorſtellungen handeln kann, weit von dem We-
ſen des Körpers unterſchieden, ob es gleich man-
nichfaltige Kräfte beſitzt, die in einer beſtändigen
Vereinigung mit einander wirken. Welche Ge-
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und Bewußtſeyn anthun, um dieſen gewiſſen Un-
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Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/310>, abgerufen am 22.11.2024.
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