keinem Spiegel sehen können, wenn er angelaufen oder bestäubt ist. So wird meine Seele keine Ge- danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von den Farben, von der Ordnung und Schönheit der sichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht die natürliche Beschaffenheit hat, die es haben soll. Mein Wille wird den Vorsatz, einen Un- glücklichen in seinem Falle aufzuhalten, oder ihn aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh- ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein Künstler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge seiner Kunst, ohne welche er seine Entwürfe nicht ausführen kann, beschädigt sind; er wird auch außer Stand gesetzt, wenn weder er noch ein an- drer sie wieder herstellen kann, an seinen Werken fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern, wenn meine Seele Theil an den Veränderungen nimmt, die ihrem Körper schaden, oder diesen und jenen nützlichen Theil desselben verletzen, wo nicht gar zerstören? Darf ich mich wundern, wenn sie darüber leidet; wenn sie Schmerzen empfin- det; wenn sie gar unfähig wird, ihre Verrichtun- gen fortzusetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk- zeug wieder hergestellt ist, oder auch in solche Um- stände kömmt, worinnen sie durch andre und viel- leicht noch beßre Mittel ihrer Bestimmung genug-
thun
keinem Spiegel ſehen können, wenn er angelaufen oder beſtäubt iſt. So wird meine Seele keine Ge- danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von den Farben, von der Ordnung und Schönheit der ſichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht die natürliche Beſchaffenheit hat, die es haben ſoll. Mein Wille wird den Vorſatz, einen Un- glücklichen in ſeinem Falle aufzuhalten, oder ihn aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh- ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein Künſtler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge ſeiner Kunſt, ohne welche er ſeine Entwürfe nicht ausführen kann, beſchädigt ſind; er wird auch außer Stand geſetzt, wenn weder er noch ein an- drer ſie wieder herſtellen kann, an ſeinen Werken fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern, wenn meine Seele Theil an den Veränderungen nimmt, die ihrem Körper ſchaden, oder dieſen und jenen nützlichen Theil deſſelben verletzen, wo nicht gar zerſtören? Darf ich mich wundern, wenn ſie darüber leidet; wenn ſie Schmerzen empfin- det; wenn ſie gar unfähig wird, ihre Verrichtun- gen fortzuſetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk- zeug wieder hergeſtellt iſt, oder auch in ſolche Um- ſtände kömmt, worinnen ſie durch andre und viel- leicht noch beßre Mittel ihrer Beſtimmung genug-
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keinem Spiegel ſehen können, wenn er angelaufen
oder beſtäubt iſt. So wird meine Seele keine Ge-
danken vom Lichte erzeugen, keine Wahrheiten von
den Farben, von der Ordnung und Schönheit der
ſichtbaren Welt erkennen, wenn mein Auge nicht
die natürliche Beſchaffenheit hat, die es haben
ſoll. Mein Wille wird den Vorſatz, einen Un-
glücklichen in ſeinem Falle aufzuhalten, oder ihn
aus einer Grube herauszuziehen, nicht ausfüh-
ren können, wenn die Nerven meiner Hand durch
einen plötzlichen Zufall gelähmt werden. Ein
Künſtler wird misvergnügt, wenn die Werkzeuge
ſeiner Kunſt, ohne welche er ſeine Entwürfe nicht
ausführen kann, beſchädigt ſind; er wird auch
außer Stand geſetzt, wenn weder er noch ein an-
drer ſie wieder herſtellen kann, an ſeinen Werken
fortzuarbeiten. Darf ich mich denn verwundern,
wenn meine Seele Theil an den Veränderungen
nimmt, die ihrem Körper ſchaden, oder dieſen und
jenen nützlichen Theil deſſelben verletzen, wo nicht
gar zerſtören? Darf ich mich wundern, wenn
ſie darüber leidet; wenn ſie Schmerzen empfin-
det; wenn ſie gar unfähig wird, ihre Verrichtun-
gen fortzuſetzen, bis entweder das ihr nöthige Werk-
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Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/313>, abgerufen am 22.11.2024.
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