O wie unglücklich und bedauernswürdig wären die Menschen, wenn ihnen der Zugang zur Erkenntniß nicht allein des erhabensten, son- dern auch des besten Wesens verschlossen wäre; wenn sie ihn suchten und nicht finden könnten! Entbehrten sie nicht die Erkenntniß desjenigen, der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde- rung, ihre uneingeschränkte Liebe, und ihre eif- rigsten Bestrebungen, ihm über alles zu gefallen, verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, so ver- dient nichts meine Achtung und Bewunderung. Alles wird ungestalt, alles verliert seine Schön- heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal in einem Mangel, den nichts ersezt. Meine Lie- be, diese feurigste Leidenschaft meiner Seele, ist eine Flamme, die vergebens lodert, die sich selbst verzehrt, weil sie nirgends eine Nahrung findet, die sie unterhalten kann.
Und was sind alle meine Erkenntnisse, wie rühmlich und nützlich sie auch seyn mögen, wenn es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das ist freylich meine Hoheit, daß mein Verstand so mannichfaltiger Begriffe, Vorstellungen und Einsichten fähig ist; das ist der Vorzug, der mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe nach nur allzunahe verwandt bin, so weit ent-
fernt,
O wie unglücklich und bedauernswürdig wären die Menſchen, wenn ihnen der Zugang zur Erkenntniß nicht allein des erhabenſten, ſon- dern auch des beſten Weſens verſchloſſen wäre; wenn ſie ihn ſuchten und nicht finden könnten! Entbehrten ſie nicht die Erkenntniß desjenigen, der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde- rung, ihre uneingeſchränkte Liebe, und ihre eif- rigſten Beſtrebungen, ihm über alles zu gefallen, verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, ſo ver- dient nichts meine Achtung und Bewunderung. Alles wird ungeſtalt, alles verliert ſeine Schön- heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal in einem Mangel, den nichts erſezt. Meine Lie- be, dieſe feurigſte Leidenſchaft meiner Seele, iſt eine Flamme, die vergebens lodert, die ſich ſelbſt verzehrt, weil ſie nirgends eine Nahrung findet, die ſie unterhalten kann.
Und was ſind alle meine Erkenntniſſe, wie rühmlich und nützlich ſie auch ſeyn mögen, wenn es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das iſt freylich meine Hoheit, daß mein Verſtand ſo mannichfaltiger Begriffe, Vorſtellungen und Einſichten fähig iſt; das iſt der Vorzug, der mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe nach nur allzunahe verwandt bin, ſo weit ent-
fernt,
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0036"n="22"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>O wie unglücklich und bedauernswürdig<lb/>
wären die Menſchen, wenn ihnen der Zugang<lb/>
zur Erkenntniß nicht allein des erhabenſten, ſon-<lb/>
dern auch des beſten Weſens verſchloſſen wäre;<lb/>
wenn ſie ihn ſuchten und nicht finden könnten!<lb/>
Entbehrten ſie nicht die Erkenntniß desjenigen,<lb/>
der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde-<lb/>
rung, ihre uneingeſchränkte Liebe, und ihre eif-<lb/>
rigſten Beſtrebungen, ihm über alles zu gefallen,<lb/>
verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, ſo ver-<lb/>
dient nichts meine Achtung und Bewunderung.<lb/>
Alles wird ungeſtalt, alles verliert ſeine Schön-<lb/>
heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal<lb/>
in einem Mangel, den nichts erſezt. Meine Lie-<lb/>
be, dieſe feurigſte Leidenſchaft meiner Seele, iſt<lb/>
eine Flamme, die vergebens lodert, die ſich ſelbſt<lb/>
verzehrt, weil ſie nirgends eine Nahrung findet,<lb/>
die ſie unterhalten kann.</p><lb/><p>Und was ſind alle meine Erkenntniſſe, wie<lb/>
rühmlich und nützlich ſie auch ſeyn mögen, wenn<lb/>
es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das iſt<lb/>
freylich meine Hoheit, daß mein Verſtand ſo<lb/>
mannichfaltiger Begriffe, Vorſtellungen und<lb/>
Einſichten fähig iſt; das iſt der Vorzug, der<lb/>
mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe<lb/>
nach nur allzunahe verwandt bin, ſo weit ent-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">fernt,</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[22/0036]
O wie unglücklich und bedauernswürdig
wären die Menſchen, wenn ihnen der Zugang
zur Erkenntniß nicht allein des erhabenſten, ſon-
dern auch des beſten Weſens verſchloſſen wäre;
wenn ſie ihn ſuchten und nicht finden könnten!
Entbehrten ſie nicht die Erkenntniß desjenigen,
der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde-
rung, ihre uneingeſchränkte Liebe, und ihre eif-
rigſten Beſtrebungen, ihm über alles zu gefallen,
verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, ſo ver-
dient nichts meine Achtung und Bewunderung.
Alles wird ungeſtalt, alles verliert ſeine Schön-
heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal
in einem Mangel, den nichts erſezt. Meine Lie-
be, dieſe feurigſte Leidenſchaft meiner Seele, iſt
eine Flamme, die vergebens lodert, die ſich ſelbſt
verzehrt, weil ſie nirgends eine Nahrung findet,
die ſie unterhalten kann.
Und was ſind alle meine Erkenntniſſe, wie
rühmlich und nützlich ſie auch ſeyn mögen, wenn
es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das iſt
freylich meine Hoheit, daß mein Verſtand ſo
mannichfaltiger Begriffe, Vorſtellungen und
Einſichten fähig iſt; das iſt der Vorzug, der
mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe
nach nur allzunahe verwandt bin, ſo weit ent-
fernt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/36>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.