Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite


O wie unglücklich und bedauernswürdig
wären die Menschen, wenn ihnen der Zugang
zur Erkenntniß nicht allein des erhabensten, son-
dern auch des besten Wesens verschlossen wäre;
wenn sie ihn suchten und nicht finden könnten!
Entbehrten sie nicht die Erkenntniß desjenigen,
der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde-
rung, ihre uneingeschränkte Liebe, und ihre eif-
rigsten Bestrebungen, ihm über alles zu gefallen,
verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, so ver-
dient nichts meine Achtung und Bewunderung.
Alles wird ungestalt, alles verliert seine Schön-
heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal
in einem Mangel, den nichts ersezt. Meine Lie-
be, diese feurigste Leidenschaft meiner Seele, ist
eine Flamme, die vergebens lodert, die sich selbst
verzehrt, weil sie nirgends eine Nahrung findet,
die sie unterhalten kann.

Und was sind alle meine Erkenntnisse, wie
rühmlich und nützlich sie auch seyn mögen, wenn
es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das ist
freylich meine Hoheit, daß mein Verstand so
mannichfaltiger Begriffe, Vorstellungen und
Einsichten fähig ist; das ist der Vorzug, der
mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe
nach nur allzunahe verwandt bin, so weit ent-

fernt,


O wie unglücklich und bedauernswürdig
wären die Menſchen, wenn ihnen der Zugang
zur Erkenntniß nicht allein des erhabenſten, ſon-
dern auch des beſten Weſens verſchloſſen wäre;
wenn ſie ihn ſuchten und nicht finden könnten!
Entbehrten ſie nicht die Erkenntniß desjenigen,
der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde-
rung, ihre uneingeſchränkte Liebe, und ihre eif-
rigſten Beſtrebungen, ihm über alles zu gefallen,
verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, ſo ver-
dient nichts meine Achtung und Bewunderung.
Alles wird ungeſtalt, alles verliert ſeine Schön-
heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal
in einem Mangel, den nichts erſezt. Meine Lie-
be, dieſe feurigſte Leidenſchaft meiner Seele, iſt
eine Flamme, die vergebens lodert, die ſich ſelbſt
verzehrt, weil ſie nirgends eine Nahrung findet,
die ſie unterhalten kann.

Und was ſind alle meine Erkenntniſſe, wie
rühmlich und nützlich ſie auch ſeyn mögen, wenn
es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das iſt
freylich meine Hoheit, daß mein Verſtand ſo
mannichfaltiger Begriffe, Vorſtellungen und
Einſichten fähig iſt; das iſt der Vorzug, der
mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe
nach nur allzunahe verwandt bin, ſo weit ent-

fernt,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0036" n="22"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>O wie unglücklich und bedauernswürdig<lb/>
wären die Men&#x017F;chen, wenn ihnen der Zugang<lb/>
zur Erkenntniß nicht allein des erhaben&#x017F;ten, &#x017F;on-<lb/>
dern auch des be&#x017F;ten We&#x017F;ens ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wäre;<lb/>
wenn &#x017F;ie ihn &#x017F;uchten und nicht finden könnten!<lb/>
Entbehrten &#x017F;ie nicht die Erkenntniß desjenigen,<lb/>
der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde-<lb/>
rung, ihre uneinge&#x017F;chränkte Liebe, und ihre eif-<lb/>
rig&#x017F;ten Be&#x017F;trebungen, ihm über alles zu gefallen,<lb/>
verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, &#x017F;o ver-<lb/>
dient nichts meine Achtung und Bewunderung.<lb/>
Alles wird unge&#x017F;talt, alles verliert &#x017F;eine Schön-<lb/>
heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal<lb/>
in einem Mangel, den nichts er&#x017F;ezt. Meine Lie-<lb/>
be, die&#x017F;e feurig&#x017F;te Leiden&#x017F;chaft meiner Seele, i&#x017F;t<lb/>
eine Flamme, die vergebens lodert, die &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
verzehrt, weil &#x017F;ie nirgends eine Nahrung findet,<lb/>
die &#x017F;ie unterhalten kann.</p><lb/>
        <p>Und was &#x017F;ind alle meine Erkenntni&#x017F;&#x017F;e, wie<lb/>
rühmlich und nützlich &#x017F;ie auch &#x017F;eyn mögen, wenn<lb/>
es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das i&#x017F;t<lb/>
freylich meine Hoheit, daß mein Ver&#x017F;tand &#x017F;o<lb/>
mannichfaltiger Begriffe, Vor&#x017F;tellungen und<lb/>
Ein&#x017F;ichten fähig i&#x017F;t; das i&#x017F;t der Vorzug, der<lb/>
mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe<lb/>
nach nur allzunahe verwandt bin, &#x017F;o weit ent-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">fernt,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0036] O wie unglücklich und bedauernswürdig wären die Menſchen, wenn ihnen der Zugang zur Erkenntniß nicht allein des erhabenſten, ſon- dern auch des beſten Weſens verſchloſſen wäre; wenn ſie ihn ſuchten und nicht finden könnten! Entbehrten ſie nicht die Erkenntniß desjenigen, der allein ihre ganze Ehrfurcht und Bewunde- rung, ihre uneingeſchränkte Liebe, und ihre eif- rigſten Beſtrebungen, ihm über alles zu gefallen, verdiente? Wenn ich Gott nicht kenne, ſo ver- dient nichts meine Achtung und Bewunderung. Alles wird ungeſtalt, alles verliert ſeine Schön- heit und Würde. Jch befinde mich auf einmal in einem Mangel, den nichts erſezt. Meine Lie- be, dieſe feurigſte Leidenſchaft meiner Seele, iſt eine Flamme, die vergebens lodert, die ſich ſelbſt verzehrt, weil ſie nirgends eine Nahrung findet, die ſie unterhalten kann. Und was ſind alle meine Erkenntniſſe, wie rühmlich und nützlich ſie auch ſeyn mögen, wenn es mir an der Erkenntniß Gottes fehlt? Das iſt freylich meine Hoheit, daß mein Verſtand ſo mannichfaltiger Begriffe, Vorſtellungen und Einſichten fähig iſt; das iſt der Vorzug, der mich von den Thieren, mit denen ich dem Leibe nach nur allzunahe verwandt bin, ſo weit ent- fernt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/36
Zitationshilfe: Cramer, Johann Andreas: Andachten in Betrachtungen, Gebeten und Liedern über Gott, seine Eigenschaften und Werke. Erster Theil. Schleßwig, 1764, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_andachten01_1764/36>, abgerufen am 03.12.2024.