Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXVI. Betrachtung. Wachsamkeit ermahnte; so hielt er ihnen zwar diesenFehler auf die sanfteste Weise vor, aber er entschul- digte sie auch zugleich, und seine Bestrafung hatte kei- nen Unwillen, sondern Mitleiden und Freundschaft zum Grunde, sie zeigte von der Herzensgüte, die aus allen seinen Handlungen hervor leuchtete. Könnt ihr denn nicht, sagte er, eine Stunde mit mir wa- chen; doch der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.*) Selbst den Judas, der mit dem tücki- schen Vorsatz, ihn in die Hände seiner Feinde zu über- liefern, umgieng, dessen niedrige Seele er bey Be- stehlung der Privatkasse**) mehrmals entdeckt hat- te, an dem er bisher sich eine Schlange im Busen genährt, und den er längst hätte verabschieden können, selbst den stößt er nicht aus seiner Gesellschaft, sagts ihm nicht grade ins Gesicht: du bist der Treulose, der mich mit Füssen tritt; sondern er sprach blos mit Wehmuth und mit feyerlichem Ernst von seinem schändlichen Entschlusse, er suchte blos das Herz des Undankbaren zu rühren und wo möglich, von seinem verruchten Vorhaben abzuschrecken. Am allerwe- nigsten war er gegen die strenge, bey denen er aufrich- tige Reue und Besserung gewahr wurde; diese be- handelte er wegen ihrer ehemaligen Fehler mit ganz besonderer Schonung. Daher machte er keinem sei- ner Jünger nach seiner Auferstehung, wegen ihrer Flucht *) Matth. 26, 40, 41. **) Joh. 12, 6.
XXVI. Betrachtung. Wachſamkeit ermahnte; ſo hielt er ihnen zwar dieſenFehler auf die ſanfteſte Weiſe vor, aber er entſchul- digte ſie auch zugleich, und ſeine Beſtrafung hatte kei- nen Unwillen, ſondern Mitleiden und Freundſchaft zum Grunde, ſie zeigte von der Herzensgüte, die aus allen ſeinen Handlungen hervor leuchtete. Könnt ihr denn nicht, ſagte er, eine Stunde mit mir wa- chen; doch der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt ſchwach.*) Selbſt den Judas, der mit dem tücki- ſchen Vorſatz, ihn in die Hände ſeiner Feinde zu über- liefern, umgieng, deſſen niedrige Seele er bey Be- ſtehlung der Privatkaſſe**) mehrmals entdeckt hat- te, an dem er bisher ſich eine Schlange im Buſen genährt, und den er längſt hätte verabſchieden können, ſelbſt den ſtößt er nicht aus ſeiner Geſellſchaft, ſagts ihm nicht grade ins Geſicht: du biſt der Treuloſe, der mich mit Füſſen tritt; ſondern er ſprach blos mit Wehmuth und mit feyerlichem Ernſt von ſeinem ſchändlichen Entſchluſſe, er ſuchte blos das Herz des Undankbaren zu rühren und wo möglich, von ſeinem verruchten Vorhaben abzuſchrecken. Am allerwe- nigſten war er gegen die ſtrenge, bey denen er aufrich- tige Reue und Beſſerung gewahr wurde; dieſe be- handelte er wegen ihrer ehemaligen Fehler mit ganz beſonderer Schonung. Daher machte er keinem ſei- ner Jünger nach ſeiner Auferſtehung, wegen ihrer Flucht *) Matth. 26, 40, 41. **) Joh. 12, 6.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0196" n="170"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> Wachſamkeit ermahnte; ſo hielt er ihnen zwar dieſen<lb/> Fehler auf die ſanfteſte Weiſe vor, aber er entſchul-<lb/> digte ſie auch zugleich, und ſeine Beſtrafung hatte kei-<lb/> nen Unwillen, ſondern Mitleiden und Freundſchaft<lb/> zum Grunde, ſie zeigte von der Herzensgüte, die<lb/> aus allen ſeinen Handlungen hervor leuchtete. <hi rendition="#fr">Könnt<lb/> ihr denn nicht,</hi> ſagte er, <hi rendition="#fr">eine Stunde mit mir wa-<lb/> chen; doch der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt<lb/> ſchwach.</hi><note place="foot" n="*)">Matth. 26, 40, 41.</note> Selbſt den Judas, der mit dem tücki-<lb/> ſchen Vorſatz, ihn in die Hände ſeiner Feinde zu über-<lb/> liefern, umgieng, deſſen niedrige Seele er bey Be-<lb/> ſtehlung der Privatkaſſe<note place="foot" n="**)">Joh. 12, 6.</note> mehrmals entdeckt hat-<lb/> te, an dem er bisher ſich eine Schlange im Buſen<lb/> genährt, und den er längſt hätte verabſchieden können,<lb/> ſelbſt den ſtößt er nicht aus ſeiner Geſellſchaft, ſagts<lb/> ihm nicht grade ins Geſicht: <hi rendition="#fr">du biſt der Treuloſe,<lb/> der mich mit Füſſen tritt;</hi> ſondern er ſprach blos<lb/> mit Wehmuth und mit feyerlichem Ernſt von ſeinem<lb/> ſchändlichen Entſchluſſe, er ſuchte blos das Herz des<lb/> Undankbaren zu rühren und wo möglich, von ſeinem<lb/> verruchten Vorhaben abzuſchrecken. Am allerwe-<lb/> nigſten war er gegen die ſtrenge, bey denen er aufrich-<lb/> tige Reue und Beſſerung gewahr wurde; dieſe be-<lb/> handelte er wegen ihrer ehemaligen Fehler mit ganz<lb/> beſonderer Schonung. Daher machte er keinem ſei-<lb/> ner Jünger nach ſeiner Auferſtehung, wegen ihrer<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Flucht</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [170/0196]
XXVI. Betrachtung.
Wachſamkeit ermahnte; ſo hielt er ihnen zwar dieſen
Fehler auf die ſanfteſte Weiſe vor, aber er entſchul-
digte ſie auch zugleich, und ſeine Beſtrafung hatte kei-
nen Unwillen, ſondern Mitleiden und Freundſchaft
zum Grunde, ſie zeigte von der Herzensgüte, die
aus allen ſeinen Handlungen hervor leuchtete. Könnt
ihr denn nicht, ſagte er, eine Stunde mit mir wa-
chen; doch der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt
ſchwach. *) Selbſt den Judas, der mit dem tücki-
ſchen Vorſatz, ihn in die Hände ſeiner Feinde zu über-
liefern, umgieng, deſſen niedrige Seele er bey Be-
ſtehlung der Privatkaſſe **) mehrmals entdeckt hat-
te, an dem er bisher ſich eine Schlange im Buſen
genährt, und den er längſt hätte verabſchieden können,
ſelbſt den ſtößt er nicht aus ſeiner Geſellſchaft, ſagts
ihm nicht grade ins Geſicht: du biſt der Treuloſe,
der mich mit Füſſen tritt; ſondern er ſprach blos
mit Wehmuth und mit feyerlichem Ernſt von ſeinem
ſchändlichen Entſchluſſe, er ſuchte blos das Herz des
Undankbaren zu rühren und wo möglich, von ſeinem
verruchten Vorhaben abzuſchrecken. Am allerwe-
nigſten war er gegen die ſtrenge, bey denen er aufrich-
tige Reue und Beſſerung gewahr wurde; dieſe be-
handelte er wegen ihrer ehemaligen Fehler mit ganz
beſonderer Schonung. Daher machte er keinem ſei-
ner Jünger nach ſeiner Auferſtehung, wegen ihrer
Flucht
*) Matth. 26, 40, 41.
**) Joh. 12, 6.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |