Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXIX. Betrachtung. Mishandlungen entgehen können, wenn ihm Wahr-heit und Aufrichtigkeit nicht so heilige Pflichten und nicht so ehrwürdige Tugenden gewesen wären. Hät- te er die Pharisäer und Schriftgelehrten mehr gescho- net, hätte er nicht die verschiedenen Gestalten ihrer Heucheley aufgedeckt, hätte er nicht so freymüthig die Schändlichkeit ihrer Betrugs- und Verstellungs- künste dargestellt, hätte er ihre geheimen bösen Ge- sinnungen und Thaten, denen sie einen sehr schönen Anstrich zu geben wußten, nicht so sichtbar enthüllt, hätte er nur ihre abergläubischen Menschensatzungen, von Fasten, Waschen und Reinigen, nicht so gerade- zu verworfen,*) hätte er sie nicht als blinde Leiter, als Verführer des Volks geschildert,**) hätte er sich gar zu ihrer Parthey geschlagen, und mit ihnen ge- meine Sache gemacht; so würde er sich zwar gegen ihre Nachstellungen gesichert haben, aber er wäre auch allen redlichen gutdenkenden Menschen weniger liebenswürdig gewesen, er wäre nicht der ehrwürdige Freund der Wahrheit und Aufrichtigkeit geblieben, der er eben dadurch wurde, als er so freymüthig dem Volke zeigte, was es für Führer an diesen Pharisä- ern habe, und welches die eigentliche versteckte Trieb- feder ihrer Handlungen sey. Hätte er nur dem Vol- ke, das so sehnlich einen irdischen Erretter hofte, mit dieser Erwartung geschmeichelt: so würde er den größ- ten *) Matth. 15, 11. **) Matth. 15, 14.
XXIX. Betrachtung. Mishandlungen entgehen können, wenn ihm Wahr-heit und Aufrichtigkeit nicht ſo heilige Pflichten und nicht ſo ehrwürdige Tugenden geweſen wären. Hät- te er die Phariſäer und Schriftgelehrten mehr geſcho- net, hätte er nicht die verſchiedenen Geſtalten ihrer Heucheley aufgedeckt, hätte er nicht ſo freymüthig die Schändlichkeit ihrer Betrugs- und Verſtellungs- künſte dargeſtellt, hätte er ihre geheimen böſen Ge- ſinnungen und Thaten, denen ſie einen ſehr ſchönen Anſtrich zu geben wußten, nicht ſo ſichtbar enthüllt, hätte er nur ihre abergläubiſchen Menſchenſatzungen, von Faſten, Waſchen und Reinigen, nicht ſo gerade- zu verworfen,*) hätte er ſie nicht als blinde Leiter, als Verführer des Volks geſchildert,**) hätte er ſich gar zu ihrer Parthey geſchlagen, und mit ihnen ge- meine Sache gemacht; ſo würde er ſich zwar gegen ihre Nachſtellungen geſichert haben, aber er wäre auch allen redlichen gutdenkenden Menſchen weniger liebenswürdig geweſen, er wäre nicht der ehrwürdige Freund der Wahrheit und Aufrichtigkeit geblieben, der er eben dadurch wurde, als er ſo freymüthig dem Volke zeigte, was es für Führer an dieſen Phariſä- ern habe, und welches die eigentliche verſteckte Trieb- feder ihrer Handlungen ſey. Hätte er nur dem Vol- ke, das ſo ſehnlich einen irdiſchen Erretter hofte, mit dieſer Erwartung geſchmeichelt: ſo würde er den größ- ten *) Matth. 15, 11. **) Matth. 15, 14.
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XXIX. Betrachtung.
Mishandlungen entgehen können, wenn ihm Wahr-
heit und Aufrichtigkeit nicht ſo heilige Pflichten und
nicht ſo ehrwürdige Tugenden geweſen wären. Hät-
te er die Phariſäer und Schriftgelehrten mehr geſcho-
net, hätte er nicht die verſchiedenen Geſtalten ihrer
Heucheley aufgedeckt, hätte er nicht ſo freymüthig
die Schändlichkeit ihrer Betrugs- und Verſtellungs-
künſte dargeſtellt, hätte er ihre geheimen böſen Ge-
ſinnungen und Thaten, denen ſie einen ſehr ſchönen
Anſtrich zu geben wußten, nicht ſo ſichtbar enthüllt,
hätte er nur ihre abergläubiſchen Menſchenſatzungen,
von Faſten, Waſchen und Reinigen, nicht ſo gerade-
zu verworfen, *) hätte er ſie nicht als blinde Leiter,
als Verführer des Volks geſchildert, **) hätte er ſich
gar zu ihrer Parthey geſchlagen, und mit ihnen ge-
meine Sache gemacht; ſo würde er ſich zwar gegen
ihre Nachſtellungen geſichert haben, aber er wäre
auch allen redlichen gutdenkenden Menſchen weniger
liebenswürdig geweſen, er wäre nicht der ehrwürdige
Freund der Wahrheit und Aufrichtigkeit geblieben,
der er eben dadurch wurde, als er ſo freymüthig dem
Volke zeigte, was es für Führer an dieſen Phariſä-
ern habe, und welches die eigentliche verſteckte Trieb-
feder ihrer Handlungen ſey. Hätte er nur dem Vol-
ke, das ſo ſehnlich einen irdiſchen Erretter hofte, mit
dieſer Erwartung geſchmeichelt: ſo würde er den größ-
ten
*) Matth. 15, 11.
**) Matth. 15, 14.
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