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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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I. Betrachtung.
geiste angetrieben, uns unvermerkt nach ihnen bilden;
wir werden ohne viele Erinnerungen ihre Denkungs-
art annehmen, und ohne allen Zwang uns gewöhnen,
so zu reden und so zu handeln, wie wir jene guten
Menschen täglich reden und handeln sahen. Das
Kind wird mit sichtbarer Willigkeit die Vorschriften
seiner Aeltern befolgen, so bald es sieht, daß jene
selbst alles das täglich thun, wozu es von ihnen er-
mahnt wird. Aber vergebens wird der Lehrer dem
Jüngling Tugend und Frömmigkeit empfehlen; um-
sonst werden alle seine Warnungen und Zurechtwei-
sungen seyn, so bald seine eigene Aufführung ver-
dächtig ist; er verliert sicher alle Achtung, wenn er
nur mit dem Munde Tugend predigt, und dagegen
durch seinen Wandel das Laster anpreist. Niemand
also, der diese Erfahrungen gemacht hat, wird läug-
nen, daß Beyspiele entweder sehr nützlich oder sehr
schädlich werden können, je nachdem sie gut oder
schlecht sind. Das Christenthum macht es daher
auch jedem seiner Bekenner zur Pflicht, andern ein
nachahmungswürdiges Beyspiel zu geben, weil sie da-
durch nicht nur der Religion Jesu Ehre machen, son-
dern weil sie auch dadurch den sichtbarsten Beweis
der edelsten Menschenliebe ablegen. Denn wer an-
dern Menschen durch sein ganzes Betragen ein gutes
Beyspiel giebt, der zeigt dadurch, daß er Gott liebt,
und daß er wünscht, seine Nebenmenschen möchten ihn

auch

I. Betrachtung.
geiſte angetrieben, uns unvermerkt nach ihnen bilden;
wir werden ohne viele Erinnerungen ihre Denkungs-
art annehmen, und ohne allen Zwang uns gewöhnen,
ſo zu reden und ſo zu handeln, wie wir jene guten
Menſchen täglich reden und handeln ſahen. Das
Kind wird mit ſichtbarer Willigkeit die Vorſchriften
ſeiner Aeltern befolgen, ſo bald es ſieht, daß jene
ſelbſt alles das täglich thun, wozu es von ihnen er-
mahnt wird. Aber vergebens wird der Lehrer dem
Jüngling Tugend und Frömmigkeit empfehlen; um-
ſonſt werden alle ſeine Warnungen und Zurechtwei-
ſungen ſeyn, ſo bald ſeine eigene Aufführung ver-
dächtig iſt; er verliert ſicher alle Achtung, wenn er
nur mit dem Munde Tugend predigt, und dagegen
durch ſeinen Wandel das Laſter anpreiſt. Niemand
alſo, der dieſe Erfahrungen gemacht hat, wird läug-
nen, daß Beyſpiele entweder ſehr nützlich oder ſehr
ſchädlich werden können, je nachdem ſie gut oder
ſchlecht ſind. Das Chriſtenthum macht es daher
auch jedem ſeiner Bekenner zur Pflicht, andern ein
nachahmungswürdiges Beyſpiel zu geben, weil ſie da-
durch nicht nur der Religion Jeſu Ehre machen, ſon-
dern weil ſie auch dadurch den ſichtbarſten Beweis
der edelſten Menſchenliebe ablegen. Denn wer an-
dern Menſchen durch ſein ganzes Betragen ein gutes
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[4/0030] I. Betrachtung. geiſte angetrieben, uns unvermerkt nach ihnen bilden; wir werden ohne viele Erinnerungen ihre Denkungs- art annehmen, und ohne allen Zwang uns gewöhnen, ſo zu reden und ſo zu handeln, wie wir jene guten Menſchen täglich reden und handeln ſahen. Das Kind wird mit ſichtbarer Willigkeit die Vorſchriften ſeiner Aeltern befolgen, ſo bald es ſieht, daß jene ſelbſt alles das täglich thun, wozu es von ihnen er- mahnt wird. Aber vergebens wird der Lehrer dem Jüngling Tugend und Frömmigkeit empfehlen; um- ſonſt werden alle ſeine Warnungen und Zurechtwei- ſungen ſeyn, ſo bald ſeine eigene Aufführung ver- dächtig iſt; er verliert ſicher alle Achtung, wenn er nur mit dem Munde Tugend predigt, und dagegen durch ſeinen Wandel das Laſter anpreiſt. Niemand alſo, der dieſe Erfahrungen gemacht hat, wird läug- nen, daß Beyſpiele entweder ſehr nützlich oder ſehr ſchädlich werden können, je nachdem ſie gut oder ſchlecht ſind. Das Chriſtenthum macht es daher auch jedem ſeiner Bekenner zur Pflicht, andern ein nachahmungswürdiges Beyſpiel zu geben, weil ſie da- durch nicht nur der Religion Jeſu Ehre machen, ſon- dern weil ſie auch dadurch den ſichtbarſten Beweis der edelſten Menſchenliebe ablegen. Denn wer an- dern Menſchen durch ſein ganzes Betragen ein gutes Beyſpiel giebt, der zeigt dadurch, daß er Gott liebt, und daß er wünſcht, ſeine Nebenmenſchen möchten ihn auch

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/30>, abgerufen am 24.11.2024.