brauchbare Werkzeuge in der Hand der Vorsehung wurden. Er selbst, Jesus, lebte in Armuth und im niedrigen Stande; fühlte selbst die Beschwerden, die damit verknüpft waren, und suchte sie, durch dieses Gefühl durchdrungen, nun andern auf alle mögliche Art zu erleichtern; aber nie schämte er sich seiner Dürftigkeit und seines niedrigen Standes; nie äußer- te er darüber Unzufriedenheit und Mißvergnügen, sondern zeigte an seinem Exempel, daß Mangel an äußern Vorzügen den Werth eines Menschen nicht bestimmen, und ihn an dem Genusse wahrer Glück- seligkeit nicht hindern können.
Möchten doch diejenigen Christen, die Gott über andere durch Ueberfluß und Ansehn erhoben hat, an Jesu Beyspiel lernen: daß auch Arme und Geringe ihre Aufmerksamkeit und Achtung verdienen, und daß es ihnen gar keine Schande ist, wenn sie sich zu ihnen herab lassen, und sie auf eine theilnehmende und men- schenfreundliche Art behandeln. Denn nichts ist schändlicher, nichts entehrt den Christen so sehr, als wenn er die Menschen blos nach ihren äußern Vor- zügen schätzt, aber nicht darnach fragt, ob sie auch verständige gute Menschen sind. Nichts ist schänd- licher, als wenn Reiche und Vornehme dem ärmern und geringern Theile ihrer Mitbrüder bey jeder Ge- legenheit verächtlich begegnen, gleichsam als wenn sie blos deswegen da wären, um sich von ihnen mißhan-
deln
LVII. Betrachtung.
brauchbare Werkzeuge in der Hand der Vorſehung wurden. Er ſelbſt, Jeſus, lebte in Armuth und im niedrigen Stande; fühlte ſelbſt die Beſchwerden, die damit verknüpft waren, und ſuchte ſie, durch dieſes Gefühl durchdrungen, nun andern auf alle mögliche Art zu erleichtern; aber nie ſchämte er ſich ſeiner Dürftigkeit und ſeines niedrigen Standes; nie äußer- te er darüber Unzufriedenheit und Mißvergnügen, ſondern zeigte an ſeinem Exempel, daß Mangel an äußern Vorzügen den Werth eines Menſchen nicht beſtimmen, und ihn an dem Genuſſe wahrer Glück- ſeligkeit nicht hindern können.
Möchten doch diejenigen Chriſten, die Gott über andere durch Ueberfluß und Anſehn erhoben hat, an Jeſu Beyſpiel lernen: daß auch Arme und Geringe ihre Aufmerkſamkeit und Achtung verdienen, und daß es ihnen gar keine Schande iſt, wenn ſie ſich zu ihnen herab laſſen, und ſie auf eine theilnehmende und men- ſchenfreundliche Art behandeln. Denn nichts iſt ſchändlicher, nichts entehrt den Chriſten ſo ſehr, als wenn er die Menſchen blos nach ihren äußern Vor- zügen ſchätzt, aber nicht darnach fragt, ob ſie auch verſtändige gute Menſchen ſind. Nichts iſt ſchänd- licher, als wenn Reiche und Vornehme dem ärmern und geringern Theile ihrer Mitbrüder bey jeder Ge- legenheit verächtlich begegnen, gleichſam als wenn ſie blos deswegen da wären, um ſich von ihnen mißhan-
deln
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0405"n="379"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">LVII.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
brauchbare Werkzeuge in der Hand der Vorſehung<lb/>
wurden. Er ſelbſt, Jeſus, lebte in Armuth und im<lb/>
niedrigen Stande; fühlte ſelbſt die Beſchwerden, die<lb/>
damit verknüpft waren, und ſuchte ſie, durch dieſes<lb/>
Gefühl durchdrungen, nun andern auf alle mögliche<lb/>
Art zu erleichtern; aber nie ſchämte er ſich ſeiner<lb/>
Dürftigkeit und ſeines niedrigen Standes; nie äußer-<lb/>
te er darüber Unzufriedenheit und Mißvergnügen,<lb/>ſondern zeigte an ſeinem Exempel, daß Mangel an<lb/>
äußern Vorzügen den Werth eines Menſchen nicht<lb/>
beſtimmen, und ihn an dem Genuſſe wahrer Glück-<lb/>ſeligkeit nicht hindern können.</p><lb/><p>Möchten doch diejenigen Chriſten, die Gott über<lb/>
andere durch Ueberfluß und Anſehn erhoben hat, an<lb/>
Jeſu Beyſpiel lernen: daß auch Arme und Geringe<lb/>
ihre Aufmerkſamkeit und Achtung verdienen, und daß<lb/>
es ihnen gar keine Schande iſt, wenn ſie ſich zu ihnen<lb/>
herab laſſen, und ſie auf eine theilnehmende und men-<lb/>ſchenfreundliche Art behandeln. Denn nichts iſt<lb/>ſchändlicher, nichts entehrt den Chriſten ſo ſehr, als<lb/>
wenn er die Menſchen blos nach ihren äußern Vor-<lb/>
zügen ſchätzt, aber nicht darnach fragt, ob ſie auch<lb/>
verſtändige gute Menſchen ſind. Nichts iſt ſchänd-<lb/>
licher, als wenn Reiche und Vornehme dem ärmern<lb/>
und geringern Theile ihrer Mitbrüder bey jeder Ge-<lb/>
legenheit verächtlich begegnen, gleichſam als wenn ſie<lb/>
blos deswegen da wären, um ſich von ihnen mißhan-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">deln</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[379/0405]
LVII. Betrachtung.
brauchbare Werkzeuge in der Hand der Vorſehung
wurden. Er ſelbſt, Jeſus, lebte in Armuth und im
niedrigen Stande; fühlte ſelbſt die Beſchwerden, die
damit verknüpft waren, und ſuchte ſie, durch dieſes
Gefühl durchdrungen, nun andern auf alle mögliche
Art zu erleichtern; aber nie ſchämte er ſich ſeiner
Dürftigkeit und ſeines niedrigen Standes; nie äußer-
te er darüber Unzufriedenheit und Mißvergnügen,
ſondern zeigte an ſeinem Exempel, daß Mangel an
äußern Vorzügen den Werth eines Menſchen nicht
beſtimmen, und ihn an dem Genuſſe wahrer Glück-
ſeligkeit nicht hindern können.
Möchten doch diejenigen Chriſten, die Gott über
andere durch Ueberfluß und Anſehn erhoben hat, an
Jeſu Beyſpiel lernen: daß auch Arme und Geringe
ihre Aufmerkſamkeit und Achtung verdienen, und daß
es ihnen gar keine Schande iſt, wenn ſie ſich zu ihnen
herab laſſen, und ſie auf eine theilnehmende und men-
ſchenfreundliche Art behandeln. Denn nichts iſt
ſchändlicher, nichts entehrt den Chriſten ſo ſehr, als
wenn er die Menſchen blos nach ihren äußern Vor-
zügen ſchätzt, aber nicht darnach fragt, ob ſie auch
verſtändige gute Menſchen ſind. Nichts iſt ſchänd-
licher, als wenn Reiche und Vornehme dem ärmern
und geringern Theile ihrer Mitbrüder bey jeder Ge-
legenheit verächtlich begegnen, gleichſam als wenn ſie
blos deswegen da wären, um ſich von ihnen mißhan-
deln
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/405>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.