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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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LXIII. Betrachtung.
les gefallen, was Gott über ihn verhieng. Hier
traf es ganz ein, was der Prophet von ihm gesagt
hatte: da er gestraft und gemartert wurde, that er
seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur
Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaaf, das
verstummet vor seinen Scheerer und seinen Mund
nicht aufthut.
*) Als ein Held trat er sein Leiden
an, als ein Held vollendete er dasselbe, und blieb sich
überall gleich, bis der Kampf vorüber, und der Sieg
errungen war. Fühllosigkeit und Gleichgültigkeit
war das nicht, denn er fühlte seine Leiden und suchte
das Gefühl derselben nicht zu verbergen, wie es der
Schwärmer unterdrückt. Mehrmals sagte er bey
der lebhaften Vorstellung seiner Leiden: Jetzt ist mei-
ne Seele betrübt! was soll ich sagen, Vater hilf mir
aus dieser Stunde!
**) Mehrmals wurde er betrübt
im Geist und ganz von Wehmuth durchdrungen,
wenn er an die Treulosigkeit seines Verräthers dachte.
Er trotzte also nicht mit stoischer Unempfindlichkeit
den ihm drohenden Widerwärtigkeiten, sondern er
war ganz der gefühlvolle Mensch, der er als unser
Mittler seyn mußte. Ja wer selbst über das Un-
glück seiner Feinde weint, wer keinen Elenden ohne
inniges Mitleiden erblickt, der hat gewiß ein weiches
gefühlvolles Herz, das den Schmerz eben so lebhaft
fühlt, wie das Vergnügen.

Füh-
*) Jes. 53, 7.
**) Joh. 12, 27.

LXIII. Betrachtung.
les gefallen, was Gott über ihn verhieng. Hier
traf es ganz ein, was der Prophet von ihm geſagt
hatte: da er geſtraft und gemartert wurde, that er
ſeinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur
Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaaf, das
verſtummet vor ſeinen Scheerer und ſeinen Mund
nicht aufthut.
*) Als ein Held trat er ſein Leiden
an, als ein Held vollendete er daſſelbe, und blieb ſich
überall gleich, bis der Kampf vorüber, und der Sieg
errungen war. Fühlloſigkeit und Gleichgültigkeit
war das nicht, denn er fühlte ſeine Leiden und ſuchte
das Gefühl derſelben nicht zu verbergen, wie es der
Schwärmer unterdrückt. Mehrmals ſagte er bey
der lebhaften Vorſtellung ſeiner Leiden: Jetzt iſt mei-
ne Seele betrübt! was ſoll ich ſagen, Vater hilf mir
aus dieſer Stunde!
**) Mehrmals wurde er betrübt
im Geiſt und ganz von Wehmuth durchdrungen,
wenn er an die Treuloſigkeit ſeines Verräthers dachte.
Er trotzte alſo nicht mit ſtoiſcher Unempfindlichkeit
den ihm drohenden Widerwärtigkeiten, ſondern er
war ganz der gefühlvolle Menſch, der er als unſer
Mittler ſeyn mußte. Ja wer ſelbſt über das Un-
glück ſeiner Feinde weint, wer keinen Elenden ohne
inniges Mitleiden erblickt, der hat gewiß ein weiches
gefühlvolles Herz, das den Schmerz eben ſo lebhaft
fühlt, wie das Vergnügen.

Füh-
*) Jeſ. 53, 7.
**) Joh. 12, 27.
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[418/0444] LXIII. Betrachtung. les gefallen, was Gott über ihn verhieng. Hier traf es ganz ein, was der Prophet von ihm geſagt hatte: da er geſtraft und gemartert wurde, that er ſeinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaaf, das verſtummet vor ſeinen Scheerer und ſeinen Mund nicht aufthut. *) Als ein Held trat er ſein Leiden an, als ein Held vollendete er daſſelbe, und blieb ſich überall gleich, bis der Kampf vorüber, und der Sieg errungen war. Fühlloſigkeit und Gleichgültigkeit war das nicht, denn er fühlte ſeine Leiden und ſuchte das Gefühl derſelben nicht zu verbergen, wie es der Schwärmer unterdrückt. Mehrmals ſagte er bey der lebhaften Vorſtellung ſeiner Leiden: Jetzt iſt mei- ne Seele betrübt! was ſoll ich ſagen, Vater hilf mir aus dieſer Stunde! **) Mehrmals wurde er betrübt im Geiſt und ganz von Wehmuth durchdrungen, wenn er an die Treuloſigkeit ſeines Verräthers dachte. Er trotzte alſo nicht mit ſtoiſcher Unempfindlichkeit den ihm drohenden Widerwärtigkeiten, ſondern er war ganz der gefühlvolle Menſch, der er als unſer Mittler ſeyn mußte. Ja wer ſelbſt über das Un- glück ſeiner Feinde weint, wer keinen Elenden ohne inniges Mitleiden erblickt, der hat gewiß ein weiches gefühlvolles Herz, das den Schmerz eben ſo lebhaft fühlt, wie das Vergnügen. Füh- *) Jeſ. 53, 7. **) Joh. 12, 27.

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/444>, abgerufen am 23.11.2024.