Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.VI. Betrachtung. aufmerksame Lesen seiner Geschichte. Zwar habendie Evangelisten keinen Versuch gemacht, eine aus- führliche Beschreibung seines Charakters zu liefern, oder einen vollständigen Abriß davon zu entwerfen. Sie haben blos eine ganz einfache und ungekünstelte Erzählung von seinem Betragen und von seinen Hand- lungen gegeben, ohne irgend einen Lobspruch hinzu zu setzen, und sie überlassen es der Welt selbst, daraus seinen Charakter zu beurtheilen. Durch das Lesen der Geschichte Jesu also wird man nicht nur mit den Schicksalen des Erlösers und mit dem Jnhalte seiner vortreflichen Lehre bekannter, sondern man wird auch dadurch mit seinen Gesinnungen und Verhalten recht vertraut; man lernt einsehen, daß sein Charakter, der sich durch so viel Großes und Eigenthümliches aus- zeichnete, in der ganzen Schöpfung nicht seines glei- chen hat. Es ist daher sehr zu bedauern, daß man in dem gegenwärtigen Zeitalter das Lesen der Bibel überhaupt, und der Geschichte Jesu insbesondere so sehr vernachläßiget. Wer diese traurige Erfahrung gemacht hat, der darf sich nicht wundern, wenn er so gar wenig christliche Gesinnungen und Tugenden un- ter dem großen Haufen der Christen findet. Viele, unter Vornehmen und Geringen, sind mit der Sin- nesart Jesu und mit dem Geiste, der in seinen Reden und Thaten herrscht, ganz unbekannt, ich geschweige, daß sie die Nachahmung seines Beyspiels sich recht ernst-
VI. Betrachtung. aufmerkſame Leſen ſeiner Geſchichte. Zwar habendie Evangeliſten keinen Verſuch gemacht, eine aus- führliche Beſchreibung ſeines Charakters zu liefern, oder einen vollſtändigen Abriß davon zu entwerfen. Sie haben blos eine ganz einfache und ungekünſtelte Erzählung von ſeinem Betragen und von ſeinen Hand- lungen gegeben, ohne irgend einen Lobſpruch hinzu zu ſetzen, und ſie überlaſſen es der Welt ſelbſt, daraus ſeinen Charakter zu beurtheilen. Durch das Leſen der Geſchichte Jeſu alſo wird man nicht nur mit den Schickſalen des Erlöſers und mit dem Jnhalte ſeiner vortreflichen Lehre bekannter, ſondern man wird auch dadurch mit ſeinen Geſinnungen und Verhalten recht vertraut; man lernt einſehen, daß ſein Charakter, der ſich durch ſo viel Großes und Eigenthümliches aus- zeichnete, in der ganzen Schöpfung nicht ſeines glei- chen hat. Es iſt daher ſehr zu bedauern, daß man in dem gegenwärtigen Zeitalter das Leſen der Bibel überhaupt, und der Geſchichte Jeſu insbeſondere ſo ſehr vernachläßiget. Wer dieſe traurige Erfahrung gemacht hat, der darf ſich nicht wundern, wenn er ſo gar wenig chriſtliche Geſinnungen und Tugenden un- ter dem großen Haufen der Chriſten findet. Viele, unter Vornehmen und Geringen, ſind mit der Sin- nesart Jeſu und mit dem Geiſte, der in ſeinen Reden und Thaten herrſcht, ganz unbekannt, ich geſchweige, daß ſie die Nachahmung ſeines Beyſpiels ſich recht ernſt-
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VI. Betrachtung.
aufmerkſame Leſen ſeiner Geſchichte. Zwar haben
die Evangeliſten keinen Verſuch gemacht, eine aus-
führliche Beſchreibung ſeines Charakters zu liefern,
oder einen vollſtändigen Abriß davon zu entwerfen.
Sie haben blos eine ganz einfache und ungekünſtelte
Erzählung von ſeinem Betragen und von ſeinen Hand-
lungen gegeben, ohne irgend einen Lobſpruch hinzu zu
ſetzen, und ſie überlaſſen es der Welt ſelbſt, daraus
ſeinen Charakter zu beurtheilen. Durch das Leſen
der Geſchichte Jeſu alſo wird man nicht nur mit den
Schickſalen des Erlöſers und mit dem Jnhalte ſeiner
vortreflichen Lehre bekannter, ſondern man wird auch
dadurch mit ſeinen Geſinnungen und Verhalten recht
vertraut; man lernt einſehen, daß ſein Charakter, der
ſich durch ſo viel Großes und Eigenthümliches aus-
zeichnete, in der ganzen Schöpfung nicht ſeines glei-
chen hat. Es iſt daher ſehr zu bedauern, daß man
in dem gegenwärtigen Zeitalter das Leſen der Bibel
überhaupt, und der Geſchichte Jeſu insbeſondere ſo
ſehr vernachläßiget. Wer dieſe traurige Erfahrung
gemacht hat, der darf ſich nicht wundern, wenn er ſo
gar wenig chriſtliche Geſinnungen und Tugenden un-
ter dem großen Haufen der Chriſten findet. Viele,
unter Vornehmen und Geringen, ſind mit der Sin-
nesart Jeſu und mit dem Geiſte, der in ſeinen Reden
und Thaten herrſcht, ganz unbekannt, ich geſchweige,
daß ſie die Nachahmung ſeines Beyſpiels ſich recht
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